Ausland31. Mai 2022

Untragbares Risiko

Der Atomkrieg und die »Logik der Abschreckung«

von Jörg Kronauer

Es dürfte ihn eigentlich gar nicht geben, den Atomkrieg, von dem derzeit wieder die Rede ist. Man kennt die »Logik der Abschreckung«: Besitzt ein Staat nur genug Atomwaffen, dann kann sein Gegner völlig sicher sein, vernichtet zu werden, wenn er seinerseits einen nuklearen Angriff unternimmt. Also wird er einen solchen Angriff tunlichst unterlassen. Nach dieser Logik ist, zugespitzt, die sicherste aller Welten diejenige, die von Atomwaffen nur so starrt. Denn keine Regierung, jedenfalls keine, die über nukleare Arsenale verfügt, habe suizidale Tendenzen.

Nun sind neben der »Logik der Abschreckung« auch deren eklatante Mängel längst allgemein bekannt. Der vielleicht gravierendste: Das Konzept kalkuliert Fehler nicht ein. Fehler geschehen nun aber zuverlässig. Entsprechend schrammte die Welt in den langen Jahrzehnten des Kalten Kriegs mehrmals nur um Haaresbreite an einem Atomkrieg vorbei, weil etwa Satelliten irgendwelche Erscheinungen irrtümlich für anfliegende Raketen hielten oder weil militärische Codes falsch übermittelt wurden und wie vermeintliche Abschußbefehle aussahen. Daß der verheerende nukleare Gegenschlag, den die »Logik der Abschreckung« ja ausdrücklich vorsieht, jeweils nicht ausgelöst wurde, war einzig und allein der Besonnenheit einzelner Offiziere zu verdanken, die im entscheidenden Moment einen kühlen Kopf bewahrten. Glückliche Zufälle sollten nun aber kein tragendes Element bei der Verhinderung eines Atomkriegs sein.

Denn was bei einem solchen Krieg droht, das weiß man seit dem Abwurf der ersten Atombomben im August 1945 über Hiroshima und Nagasaki zur Genüge – und die heutigen Atomwaffen verfügen in aller Regel über eine Sprengkraft, die um ein Zigfaches stärker ist. Der US-amerikanische Historiker Alex Wellerstein hat eine makabre Website online gestellt, auf der man berechnen kann, von welcher Opferzahl beim Abwurf unterschiedlicher Atombomben in verschiedenen Weltgegenden auszugehen wäre. Schon die Detonation einer einzigen Waffe kostete womöglich Millionen Menschen das Leben. Ein umfassender nuklearer Schlagabtausch führte in ein Inferno – und vermutlich zum Ende der heutigen Zivilisation.

Jenseits der »Logik der Abschreckung« haben Militärstrategen regelmäßig versucht, Konzepte für – vermeintlich – begrenzte Atomkriege zu skizzieren. Dazu zählt etwa der Plan, einzelne Atomwaffen mit geringer Sprengwirkung fernab aller Ballungsräume auf dem Schlachtfeld gegen feindliche Truppen zum Einsatz zu bringen. Das soll militärisch einen entscheidenden Vorteil schaffen. Die US-amerikanischen Bomben B-61-12, die die alten, im Zuge der »nuklearen Teilhabe« im rheinland-pfälzischen Büchel gelagerten Bomben ersetzen werden, sind taktisch einsetzbar. Das Problem: Die vermeintliche Möglichkeit, Atomwaffen strikt beschränkt zum Einsatz bringen zu können, senkt die Hemmschwelle, und das nicht nur auf der eigenen Seite, sondern auch beim Gegner. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein taktischer Einsatz mit einem ebensolchen beantwortet wird, ist hoch.

Mal ganz davon abgesehen, daß atomare Aufrüstung unauflöslich mit der Gefahr eines eskalierenden Atomkriegs verbunden ist: Jeder bewaffnete Konflikt mit einer Atommacht birgt das Risiko, in ein nukleares Inferno überzugehen. Deshalb muß er dringend gemieden werden. Was aber, wenn man unbedingt einen Konflikt mit zumindest bewaffneter Komponente mit einer Atommacht austragen will? Nun, dann geht man sehenden Auges ein nukleares Eskalationsrisiko ein. Und weil dieses Risiko nun doch für allzu viele untragbar ist, kommt man kaum umhin, es zu relativieren, kleinzureden, zu leugnen.

Wie das funktioniert, das kann man in diesen Tagen sehr gut in den Massenmedien studieren, die die sehr begründete Furcht vor einem Weltkrieg mit nuklearer Eskalationsgefahr als eine irgendwie verständliche, aber unangebrachte Macke abtun.