Wachsende Atomkriegsgefahr
Wie eine Warnung Putins zu Nukleartests zur »Drohung mit Atomwaffen« wird
Bereiten die großen Nuklearmächte eine »Rückkehr zu Atomtests« vor? Mit dieser Frage befaßt sich die aktuelle Ausgabe des »Bulletin of the Atomic Scientists«, eine renommierte, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gegründete Fachzeitschrift, deren »Weltuntergangsuhr«, 1947 erfunden, zur Zeit auf 90 Sekunden vor Mitternacht steht, so kurz vor der atomaren Vernichtung wie nie zuvor.
In den einschlägigen Elitenzirkeln, die sich mit Fragen der Militärstrategie befaßten, werde in letzter Zeit zuweilen über einen vermeintlichen Nutzen von Nuklearwaffentests schwadroniert, berichtet das Blatt. Auf dem Atomtestgelände der USA in Nevada würden neue Tunnel gebaut; offiziell heiße es zwar, man modernisiere die Anlage nur, um verschiedene zulässige Aktivitäten fortführen zu können – doch sei dies glaubhaft? Immerhin haben die USA den Kernwaffenteststoppvertrag von 1996, der alle, also auch unterirdische Nuklearwaffentests verbietet, bis heute nicht ratifiziert.
Auf das Geraune, die Spekulationen über neue Atomtests der USA , hat sich Rußlands Präsident Wladimir Putin am Mittwoch vergangener Woche in einem Fernsehinterview bezogen. Er hat angekündigt, falls Washington tatsächlich welche durchführe, behalte Moskau sich das ebenfalls vor. Rußland hat, um im Fall der Fälle handlungsfähig zu sein, seine Ratifizierung des Teststoppvertrages von 1996 bereits im November zurückgezogen.
Die im Gang befindliche Modernisierung der Atomwaffen der USA mache ihm allerdings keine Sorgen, teilte Putin mit. Die Vereinigten Staaten führen gerade eine neue Generation Atombomben ein, die B61-12, die auch in Büchel gelagert werden soll. Sie ist kleiner, kann präzise gelenkt werden – und sie gilt daher auch als taktisch einsetzbar, als »Schlachtfeldwaffe«, was die Hemmschwelle, sie abzuwerfen, senkt. Inzwischen wurde der US-amerikanische Kampfjet F-35A für ihren Abwurf zertifiziert. Rußland verfüge trotzdem über das »modernere« Atomarsenal, erklärte Putin.
Vor allem aber äußerte Putin sich zur Atomkriegsgefahr. Natürlich sei Rußland »militärisch-technisch« bereit, Kernwaffen einzusetzen, erklärte er. Es werde das aber nur tun, wenn seine Existenz, Souveränität und Unabhängigkeit bedroht seien. Damit aber rechne er, Putin, nicht. Die USA wüßten genau, mit welcher Eskalationsgefahr es verbunden sei, wenn sie Bodentruppen in die Ukraine schickten. Sie würden das deshalb kaum tun: In den US-Regierungsapparaten gebe es genug Fachleute »auf dem Feld strategischer Zurückhaltung«.
Die Äußerung darf man wohl vor allem als eine neuerliche Warnung in Richtung Westeuropa verstehen. Schon Ende Februar hatte Putin gewarnt, sollte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die Drohung wahr machen, europäische Truppen in die Ukraine zu entsenden, dann begebe er sich auf eine abschüssige Bahn, die jederzeit im Atomkrieg enden könne.
Die Debatte darüber dauert dennoch an. Die Fähigkeit zu »strategischer Zurückhaltung«, die Putin in den USA wahrnimmt, geht den Herrschenden in der EU offenkundig ab. Und die eindeutige und unmißverständliche Warnung Putins wurde in westlichen Medien unverzüglich in eine »Drohung mit Atomwaffen« umformuliert.