Ausland30. April 2025

Vor dem Sieg in Vietnam

In der Demokratischen Republik Vietnam unter Bomben. Ein Augenzeugen-Bericht von Irene und Gerhard Feldbauer

von Gerhard Feldbauer

Es war etwa 19 Uhr Ortszeit am Abend des 31. Juli 1967. Wir flogen auf Hanoi zu, wo wir unseren Einsatz als Auslandskorrespondenten für den Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst« (ADN) der DDR und die Tageszeitung »Neues Deutschland« begannen. Als wir die Grenze überflogen, erlosch in unserer IL-14 der China Air die Beleuchtung. Flakscheinwerfer suchten den Himmel ab, Mig-Jäger eskortierten den Flug. Nach der Landung auf dem Hanoier Flughafen Gia Lam begrüßten uns an der Gangway junge Vietnamesinnen in farbenprächtigen Nationaltrachten mit großen Blumensträußen. Dann hießen uns Vertreter der Presseabteilung des Außenministeriums herzlich willkommen.

Hatten uns die Blumenmädchen einen Augenblick den Krieg vergessen lassen, so erinnerten uns die in Dunkelheit gehüllten Flughafengebäude, auf die wir zuschritten, wieder an die Wirklichkeit. Wir kamen in ein vom Krieg heimgesuchtes Land, in ein Nordvietnam unter dem Hagel US-amerikanischer Bomben, wurden unzählige Male Augenzeugen barbarischer Luftangriffe, der Zerstörung von Wohnvierteln, Krankenhäusern, Schulen und Betrieben, Kirchen und Pagoden, Straßen und Brücken, Bewässerungsanlagen der Reisfelder. Wir sahen blutbefleckte Kleider, zerfetzte Schulbücher, Krankenbetten, die aus Trümmern ragten, verstümmelte Menschen, Arme, Beine abgerissen, die vielen, vielen Toten, Opfer der Zivilbevölkerung, vor allem immer wieder Frauen, Kinder, alte Menschen. Ein Leid, das man kaum beschreiben konnte.

Wir sahen aber auch den unbeugsamen Willen von Menschen, die ihre unter unsagbaren Opfern errungene Freiheit und Unabhängigkeit verteidigten, wir wurden Zeugen des Scheiterns der barbarischen Luftaggression der USA gegen die DRV und während des Tet-Festes im Frühjahr 1968, der strategischen Wende im Befreiungskampf in Südvietnam.

Auf der Fahrt in die Stadt überquerten wir die legendäre Lon Bien-Brücke über den Song Cai, wie der Rote Fluß in der Landessprache heißt. Etwa zwei Kilometer lang, bildete sie die wichtigste Ader für den Fahrzeug- und Eisenbahnverkehr auf bzw. entlang der Straße Nr. 1, die über rund 1.200 km von der chinesischen Grenze im Norden bis hinein nach Saigon führte.

Während unserer Arbeit hatten wir das große Glück, Ho Chi Minh mehrmals zu begegnen. Darunter waren nicht nur persönliche Begegnungen, bei denen wir direkt mit ihm zusammentrafen, mit ihm sprachen, er uns die Hand drückte, uns freundschaftlich umarmte, sich nach unserem Befinden erkundigte, wir in einer unvergeßlichen Weise die kaum wiederzugebende Ausstrahlung dieser faszinierenden Persönlichkeit spürten, an der nichts von Personenkult zu bemerken war. So war es auch während einer Festveranstaltung am 19. Dezember 1967 zum 23. Jahrestag der Gründung der Volksarmee. Als Irene auf der Bühne Ho fotografierte, rief er sie zu sich und unterhielt sich mit ihr über ihre Arbeit.

Er war aber auch immer bei den Begegnungen anwesend, die wir mit den Menschen Vietnams hatten, bei den vielen Gesprächen, er war einfach dabei und er lebte, auch nach seinem Tod, im Kampf seines Volkes weiter. Sein Testament, das er vier Monate vor seinem Tod, im Mai 1969, verfaßte, ist durchdrungen von der Liebe zu seinem Volk und der unerschütterlichen Gewißheit, daß es bis zum Sieg kämpfen werde.

Man möchte fast sagen, daß seine herausragende Führerpersönlichkeit erst nach seinem Tod sichtbar wurde. Denn als Ho Chi Minh während des erbitterten Befreiungskrieges gegen die USA-Aggressoren und das südvietnamesische Marionettenregime im September 1969 starb, hinterließ er nicht, worauf seine Feinde spekuliert hatten, ein Vakuum, sondern eine kampfgestählte Partei mit einem starken Führungskollektiv, und ein von seinem Unabhängigkeitswillen beseeltes Volk, die sein Werk fortsetzten.

Das vietnamesische Volk siegte über die Militärmacht der USA, die stärkste der westlichen Welt, die als Nachfolger der französischen Kolonialisten seit 1955 Vietnam mit einem barbarischen Vernichtungskrieg überzogen hatte. Die große Hilfe des damals existierenden sozialistischen Lagers, darunter modernste konventionelle Waffen aus der Sowjetunion und Lieferungen aus der Volksrepublik China, die weltweite Solidarität der Völker und ihrer Friedenskräfte, eingeschlossen die in den USA selbst, waren entscheidende Grundlagen dieses Sieges. Aber die letztlich ausschlaggebende Bedingung, daß diese Faktoren zur Geltung kommen konnten, war der nicht zu brechende Widerstandswille des Volkes, der in den Traditionen nationalen und antikolonialen Widerstandes wurzelte, die zu mobilisieren eine kommunistische Partei verstand, die der legendäre Ho Chi Minh gegründet hatte.

Einen ersten konkreten Eindruck davon erhielten wir Mitte August, während einer fast drei Wochen dauernden schweren Angriffswelle auf Hanoi. Wir befanden uns gegen 12 Uhr wenige hundert Meter von der Long Bien-Brücke entfernt, als F-105 »Thunderchief« sie eine halbe Stunde lang in sieben Wellen angriffen. Zum ersten Mal erlebten wir, daß ihnen ein außerordentlich starkes Abwehrfeuer von Flugabwehr-Kanonen und Sam-Raketen entgegenschlug. Die F-105 warfen ihre Bomben aus einigen Tausend Metern Höhe ab. Sie hatten zunächst etwa Streichholzgröße, aber in Sekundenschnelle wuchsen sie zu ihrem vollen Ausmaß an und explodierten vor uns. Wir standen in einer Gruppe von Vietnamesen, die uns, als wir Deckung suchten, zu sich gewunken hatten. Für sie war das Kriegsalltag und sie strahlten eine Ruhe aus, die uns half, wie auch später noch oft, mit solchen Situationen fertig zu werden.

Wir standen hinter einer etwa eineinhalb Meter hohen Erdaufschüttung, die vor ihren Häusern eine Art Schutzwall gegen Bombensplitter bilden sollte. Ein älterer Vietnamese legte kameradschaftlich seinen Arm auf meine Schulter, sein Lächeln schien zu sagen, keine Angst, wir halten durch. Wenn eine neue Welle der F-105 nahte und die Bomben vor uns einschlugen, duckten wir uns. Die Long Bien wurde an diesem Tag nicht getroffen. Das Sperrfeuer der Luftabwehr hatte das verhindert.

Mitte Oktober erlebten wir in der Hafenstadt Haiphong fast eine Woche Tag und Nacht die Angriffe von Maschinen der im Golf von Tongking kreuzenden Flugzeugträger. Am 14. Oktober wurden im Wohnviertel von Dong Hai 56 Wohnhäuser zerstört. Ganze Häuserreihen waren Ruinenfelder. Im Bezirk Hong Bang das Krankenhaus Ky Dong schwer beschädigt, darunter die Pharmakologische Forschungsabteilung und die Kinderstation. In ganz Nordvietnam wurden bis Oktober 1967 74 Krankenhäuser zerstört.

Zurück in Hanoi erfuhren wir aus die Zeitung »Nhan Dan«, daß in den vorangegangenen Tagen nach Abschuß ihrer Maschinen 15 US-amerikanische Piloten gefangen genommen worden waren, darunter der Marineflieger Major John Sydney McCain vom Flugzeugträger »Oriskany« am 26. Oktober mit seiner F 4 »Phantom«. Der prominente Offizier und 2018 verstorbene republikanische US-Senator – sein Großvater befehligte im Zweiten Weltkrieg die USA-Flugzeugträger im Pazifik und der Vater war Befehlshaber der USA-Flotte in Europa, gab zu, das Feuer der Luftabwehr sei, besonders über Hanoi, »sehr dicht und sehr präzise«. Die Air Force verliere zehn und mehr Prozent ihrer Maschinen. Bei seinem letzten Einsatz konnte er noch registrieren, daß von 25 Maschinen, seine mitgerechnet, drei abgeschossen wurden.

Oberst Robinson Risner, ein »Flieger-Ass« aus dem Koreakrieg, der bereits am 16. September 1965 abgeschossene wurde, gab an, daß die Vietnamesen bei einem Angriff von 18 »Thunderchief« seines Geschwaders fünf vom Himmel geholt hatten. Der britische Konsul sagte mir einmal, das seien, verglichen mit den Abschußziffern, welche die Royal Air Force in der Luftschlacht über England gegen Görings Flieger erzielte, Ergebnisse, die »sich sehen lassen« könnten.

Am 19. November 1967 befanden wir uns in dem mit 1.500 Betten größten Krankenhaus Hanois, dem im Süden gelegenen Bach Mai, als mehrere Bomben, darunter die berüchtigten Kugelbomben auf dem Gelände niedergingen. Unter den Patienten gab es einen Toten und 20 Verletzte. Ein Arzt und zwei Schwestern wurden ebenfalls verletzt.

Im Bach Mai hatten wir wieder einmal gesehen, daß die Zivilbevölkerung trotz aller Anstrengungen oft schutzlos den Bomben ausgeliefert war. Besonders schlimm war das in einem Krankenhaus, wo man gar nicht so viele Schutzbunker anlegen konnte, um Patienten unterzubringen. Dabei befanden sich bereits die Schwerkranken bzw. Schwerverletzten die meiste Zeit in Luftschutzräumen.

Im Frühjahr 1968 waren wir auf dem Weg nach Süden nachts am Lam-Fluß angekommen, wo wir auf die Freigabe einer unter Wasser liegenden Behelfsbrücke warteten. Als wir bemerkten, daß vor uns mehrere Tanklaster standen, beschlossen wir, umzukehren. Wir hatten kaum einen Kilometer zurückgelegt, als der Flußübergang angegriffen wurde. Noch lange sahen wir ein riesiges Flammenmeer und wußten, dort starben viele Menschen. Wir übernachteten an der Straße Nr. 1 in einem kleinen Dorf, in dem die Bewohner eine Anzahl einfacher Bambushütten an Stelle der meisten zerstörten festen Häuser errichtet hatten.

Am späten Nachmittag luden wir unser weniges Gepäck bereits auf die Fahrzeuge, als das Dorf angegriffen wurde. Die Maschinen flogen so tief, daß wir die Köpfe der Piloten in den Kanzeln erkennen konnten. Ringsherum explodierten Bomben und schlugen Raketen ein. Wir hatten nur eins im Sinn, das Verbrechen mit unseren Kameras festzuhalten. Aber unsere vietnamesischen Begleiter wurden, wie so oft, unsere Lebensretter. Sie zerrten uns förmlich mit Gewalt auf unsere Jeeps und wir rasten davon, das Dorf im Bombenhagel hinter uns zurücklassend.

Auf der Straße Nr. 1, zu der parallel eine Eisenbahnlinie verlief, erlebten wir wieder einmal Heroismus, Einsatzbereitschaft und Erfindergeist, der fast die herkömmliche Vorstellungskraft überstieg. Entlang der ganzen Route gab es unzählige Nebenstraßen, auf welche die Fahrzeugkolonnen bei Zerstörungen ausweichen konnten. Inzwischen wurden bombardierte Abschnitte in kürzester Zeit wieder instand gesetzt. Bautrupps, meist aus Jugendlichen, oft Mädchen bestehend, arbeiteten unter Anleitung erfahrener Straßen- und Brückenbauingenieure. Bei einem Halt begegneten wir einige Meter von der Straße entfernt fünf Mädchen. In einem Bambushain stand ihre einfache Hütte. Für jeweils vier Stunden bezogen sie ihren Posten an der Straße. Wie so oft krampfte sich uns das Herz zusammen, als wir diese blutjungen Mädchen sahen, die mit einer bewundernswürdigen Hingabe arbeiteten und vielleicht schon den nächsten Angriff nicht überleben würden.

Da die DRV, nicht zuletzt dank der militärischen Hilfe der Sowjetunion und Chinas, nicht zur Kapitulation gezwungen werden konnte, mußte Washington, auch angesichts der Proteste in den USA, am 1. November 1968 die bedingungslose Einstellung der Luftangriffe erklären. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die nordvietnamesische Luftabwehr 3.243 USA-Flugzeuge abgeschossen.

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