Leitartikel10. Juni 2022

Ein kurzer Traum von Fortschritt

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Im neuen Wochenbericht der Santé ist zu lesen, daß die Fallzahlen auch in Luxemburg wieder ansteigen. Natürlich nach der Impfung und aufgrund weniger kritischer Varianten mittlerweile mit einem relativ überschaubaren Gesundheitsrisiko für die breite Masse, doch sollten wir daran denken, daß die Pandemie noch nicht überstanden ist, auch wenn wir mittlerweile wieder etwa in einer ausverkauften Rockhal The Offspring feiern oder am kommenden Samstag ins gleichsam vollbesetzte Stadion gehen, um die »Roud Léiwen« anzufeuern. Auch die Maskenpflicht im Feierabendverkehr des Öffentlichen Transports gehört bald erst einmal der Vergangenheit an.

Die Corona-Pandemie hat in ihrer heißen Phase Dinge möglich gemacht, von denen zuvor immer wieder behauptet worden war, daß sie nicht machbar seien: Telekonsultation beim Arzt, Krankenschein via Email, Home Office oder Lieferdienste, wo man sie bisher nicht kannte. Insbesondere das zeitweise Abrücken vom Fetisch des Präsentismus führte dazu, daß Straßen angenehm leer waren und die meisten Beschäftigten viel Zeit, Geld und Nerven sparten. Natürlich ist Arbeit von daheim nicht jedermanns Sache und es kann beiderseits durchaus zu Mißbrauch kommen, doch hat die Pandemie uns quasi gezwungen, neue Ansätze auszuprobieren, um, salopp ausgedrückt, den Laden am Laufen zu halten.

Im Zusammenhang mit dem Home Office wurden auf Behörden-Ebene mit den Nachbarländern entsprechende Abkommen geschlossen, damit der normalerweise geltende Rahmen von Tagen, in denen Heimarbeit zulässig ist, nicht überschritten und der Beschäftigte der Gefahr einer Doppelbesteuerung ausgeliefert wird.

Mehrfach wurden diese Abkommen verlängert – bis zum kommenden 30. Juni. Dann nämlich laufen die Vereinbarungen aus und es gilt wieder der normale Rahmen, da die Behörden der Länder angesichts der trotz steigender Infektionszahlen insgesamt entspannteren Lage keine Notwendigkeit zur Verlängerung sehen, wie es heißt.

Die Nachbarländer kehren also zurück zu ihren maximal erlaubten Heimarbeitstagen und die Beschäftigten zurück auf die Straße, auf denen man ohnehin seit Monaten nichts mehr von der pandemiebedingten Zurückhaltung feststellen kann. Auch viele Veranstaltungen und Meetings, die in der Hochphase der Pandemie beispielsweise in Online-Streamings abgehalten wurden und eine Anreise oder gar ganze Business-Reisen mit einem Mal unnötig machten, gehören größtenteils wieder der Vergangenheit an.

Die im ersten Pandemiejahr aus der Not geborenen Innovationen werden wieder eingestampft und Chancen vertan, dauerhafte Verbesserungen zu schaffen. Viele Chefs scheinen ohnehin ihren Untergebenen nicht so ganz zu trauen, wenn es um flexibleres Arbeiten im Sinne der Beschäftigten geht. Dabei hat die CSL dieser Tage ein weiteres Mal vorgerechnet, daß insbesondere in Luxemburg das Patronat sich eine ganz besonders dicke Scheibe von dem abschneidet, was ihre Angestellten erarbeiten. Ein solches Mißtrauen, wie es sich immer wieder feststellen läßt, wenn Beschäftigte nicht unter der direkten Kontrolle stehen, zeigt im Prinzip, welchen Wert die Angestellten haben und damit auch, daß es in erster Linie diese Unternehmen sind, die immer wieder verhindern, daß eine bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Leben zu zeitgemäßen Bedingungen auf den Weg gebracht werden kann. Die Politik setzt hier nur um, was ihr aufgetragen wird.