Ausland03. Juli 2021

Britische Zündeleien am Pulverfaß

Besessen vom Kalten Krieg. Zerstörer der Royal Navy drang in russische Hoheitsgewässer ein. Vorstoß gegen Abrüstung und Entspannung

von Klaus Wagener

Der Krieg rückt näher. Der Lenkwaffenzerstörer »HMS Defender« der britischen Royal Navy drang am 23. Juni in der Nähe der Krim in die russische 12-Meilen-Hoheitszone entlang der Küste ein. Wie der an Bord befindliche BBC-Journalist Jonathan Beale bezeugte, handelte die »HMS Defender« in voller Absicht. Beale machte auch Tonaufnahmen von den Reaktionen des russischen Militärs.

Die russische Küstenwache hatte das Schiff gewarnt und feuerte danach Warnschüsse auf den Zerstörer. Etwa 20 russische Marineflieger versuchten den britischen Zerstörer von seiner Grenzprovokation abzubringen. Als das nicht half, verlegte ein Kampfflugzeug vom Typ Su-24M mit vier 250-Kilogramm-Splittersprengbomben den Kurs des Zerstörers. Kurz darauf verließ die »HMS Defender« die russischen Gewässer. Die russische Seite machte klar, daß sie das britische Manöver als ernste Verletzung ihrer territorialen Integrität betrachtet und daß im Wiederholungsfalle die Bomben nicht vor das Schiff, sondern darauf fallen würden.

Die Frage lautet: Was macht ein britischer Zerstörer tausende Seemeilen von den Küsten Britanniens entfernt in russischen Küstengewässern? In der Nähe des legendären Hauptquartiers der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol? Und was macht ein BBC-Korrespondent plus Kamerateam an Bord? Vielleicht ist Britannien ja tatsächlich bedroht, aber dann müßte die Royal Navy doch eher in den Firth of Forth einlaufen und den Regierungssitz von Nicola Sturgeon in Edinburgh ins Visier nehmen. Rußland jedenfalls hat deutlich andere Sorgen als das mittlerweile reichlich ramponierte britische Königreich anzugreifen.

Natürlich sehen das die britischen Rußland-»Falken« im Militär, in der Bourgeoisie und in den Medien völlig anders. Hier ist man geradezu besessen vom Kalten Krieg gegen die Sowjetunion, dem nach der Oktoberrevolution bereits ein heißer Interventionskrieg vorangegangen war. Ein gescheitertes »Abenteuer«, das dessen prominentester Promoter, Winston Churchill, 1945 – der Zweite Weltkrieg war noch nicht vorüber – mit Hilfe der faschistischen deutschen Wehrmacht gern wiederholt hätte. Das Projekt hieß »Operation Unthinkable« (Unternehmen Undenkbar) und hätte Briten und US-Amerikaner an der Seite von zehn faschistischen Wehrmachtsdivisionen, gegen die sie gerade noch gekämpft hatten, gegen ihren sowjetischen Verbündeten in Stellung gebracht und damit den Dritten Weltkrieg ausgelöst. Seit der Oktoberrevolution sind die britische Oberschicht und ihre »freien Medien« geradezu besessen von einem »Feldzug gegen Rußland«.

Ganz gleich ob kalt oder heiß: Die Sowjetunion/Rußland-Obsession hatte auch nach 1991, von wenigen Jelzin-Jahren abgesehen, bruchlos weiter Bestand. Die NATO-Ostexpansion; Kriege in Syrien, Libyen, im Kaukasus; Regime-Change-Operationen in Georgien, der Ukraine und in Belarus; die Skripal- und die Nawalny-Affäre – keine Möglichkeit, sich mit Rußland anzulegen und es in den Senkel zu stellen wurde ausgelassen. Für nicht wenige der ehrenwerten Damen und Herren ist der Versuch der USA-Führung, zu einem entspannteren Verhältnis zu Moskau zu kommen, nahezu Verrat.

Auch Frankreich und Deutschland wollten die Lage mit einem EU-Gipfel mit russischer Beteiligung entkrampfen. Vor allem die deutsche Exportindustrie ist an dem seit 2014 anhaltenden hysterischen Rußland-Bashing wenig interessiert – hatte doch der Kurswechsel Bidens, so widersprüchlich und begrenzt er inhaltlich auch war und zeitlich auch sein dürfte, dennoch Chancen eröffnet, zu einem geschäftsmäßigeren Verhältnis zu den Russen zu kommen und hier wieder gute Geschäfte zu machen.

Präsident Wladimir Putin war diesen Bemühungen mit einem ausgesprochen konstruktiven Namensartikel zum 80. Jahrestag des 22. Juni 1941 in der Hamburger Wochenzeitung »Die Zeit« entgegengekommen: »Wir sind offen für ein faires und kreatives Zusammenwirken. Dies unterstreicht auch unsere Anregung, einen gemeinsamen Kooperations- und Sicherheitsraum vom Atlantik bis hin zum Pazifik zu schaffen.«

Der britische Reporter an Bord des Zerstörers läßt keinen Zweifel daran, daß es sich bei der Aktion der »HMS Defender« um einen geplanten Coup mit ebenso geplanter großer medialer Verstärkung handelte. Das kurzfristige Ziel der Übung dürfte daher die Torpedierung des EU-Gipfels am darauffolgenden Tag gewesen sein. Was auch gelang – der Vorstoß von Merkel und Macron ist in Brüssel geradezu spektakulär gescheitert.

Das britische Militär ist allerdings mit seinen Zündeleien am ukrainischen Pulverfaß nicht allein. Die NATO-Großkriegsübung »Defender Europe 21« fand parallel vor der Küste der Krim statt. Aktuell läßt USA-Präsident Biden wieder Ziele in Syrien und Irak bombardieren. Auch die deutsche Bundeswehr hat zwei Eurofighter nach Rumänien verlegt, welche die NATO-Präsenz über dem Schwarzen Meer verstärken sollen. Auch Deutschland soll wieder einmal tausende Kilometer entfernt »vorausverteidigt« werden.

Rußland hat diesen verstärkten »westlichen« Truppenaufmarsch vor seiner Haustür mit eigenen Verteidigungsanstrengungen beantwortet. Neben der Modernisierung der eigenen strategischen Abwehr wurden auch die russischen Luftstreitkräfte in Syrien deutlich verstärkt. Zusätzlich zur Stationierung von strategischen Überschallbombern vom Typ Tu-22M3 auf der Hmeimim Airbase sind dort nun auch hochpotente MiG-31K-Abfangjäger positioniert worden. Die MiG-Kampfflugzeuge sind die schnellsten der Welt und können mit der neuen Kinschal-Hyperschall-Rakete bewaffnet werden, die eine Reichweite von 2.000 Kilometern hat und eine Geschwindigkeit von Mach 10 erreicht. Die Stationierung dieser Kampfflugzeuge verändert das strategische Gleichgewicht im Mittelmeerraum und im Nahen Osten deutlich.

Die Frage, wer hinter dem Manöver der »HMS Defender« steckt, ist nicht eindeutig zu beantworten. Falls es »nur« die britischen Kriegstreiber sind, wäre die Situation vielleicht beherrschbar. Möglicherweise betreiben aber auch Kräfte aus dem militärisch-geheimdienstlich-industriellen Komplex der USA wieder eine Art Neben-Außenpolitik – es wäre nicht das erste Mal. Abrüstung und Entspannung gelten diesen Kräften als extrem geschäftsschädigend. Das müßte dann allerdings alle Alarmglocken zum Läuten bringen.