Theoretische Zerfahrenheit
Über die Bedeutung des Marxismus für die russische Sozialdemokratie
Dogmatismus, Doktrinarismus«, »Verknöcherung der Partei als unvermeidliche Strafe für die gewaltsame Abschnürung des Denkens« – das seien die Feinde, gegen die die Verfechter der »Freiheit der Kritik« um »Rabotscheje Delo« so kühn zu Felde ziehen. (…) Das Beispiel der russischen Sozialdemokraten illustriert besonders anschaulich die allgemeine europäische Erscheinung (die auch von den deutschen Marxisten schon seit langem festgestellt worden ist), daß die vielgerühmte Freiheit der Kritik nicht das Ablösen einer Theorie durch eine andere bedeutet, sondern das Freisein von jeder geschlossenen und durchdachten Theorie, daß sie Eklektizismus und Prinzipienlosigkeit bedeutet.
Wer den tatsächlichen Zustand unserer Bewegung einigermaßen kennt, der kann nicht umhin zu sehen, daß die weite Verbreitung des Marx-ismus von einem gewissen Absinken des theoretischen Niveaus begleitet war. Der Bewegung schlossen sich, angezogen von ihrer praktischen Bedeutung und ihren praktischen Erfolgen, viele Leute an, die sehr wenig oder gar keine theoretischen Kenntnisse hatten. Man kann danach beurteilen, welchen Mangel an Takt das »Rabotscheje Delo« zeigt, wenn es mit triumphierender Miene Marx’ Ausspruch ins Treffen führt: »Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme.« (Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Band 19, Seite 13)
Diese Worte in einer Zeit der theoretischen Zerfahrenheit wiederholen ist dasselbe, als wolle man beim Anblick eines Leichenbegängnisses ausrufen: »Mögen euch immer so glückliche Tage beschieden sein!« Zudem sind die Worte von Marx seinem Brief über das Gothaer Programm entnommen, in dem er den bei der Formulierung der Prinzipien zugelassenen Eklektizismus scharf verurteilt: Wenn man sich schon vereinigen mußte, schrieb Marx an die Parteiführer, so hätte man einfach eine Übereinkunft abschließen sollen, um praktische Ziele der Bewegung zu befriedigen, sich aber auf keinen Prinzipienschacher einlassen, keine theoretischen »Zugeständnisse« machen dürfen. Das war Marx’ Gedanke, bei uns aber finden sich Leute, die in seinem Namen die Bedeutung der Theorie herabzusetzen suchen!
Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben. (…) Für die russische Sozialdemokratie aber wird die Bedeutung der Theorie noch durch drei Umstände erhöht, die man oft vergißt, nämlich: Erstens dadurch, daß sich unsere Partei eben erst herausbildet, erst ihr eigenes Gesicht herausarbeitet und die Auseinandersetzung mit den anderen Richtungen des revolutionären Denkens, die die Bewegung vom richtigen Wege abzulenken drohen, noch lange nicht abgeschlossen hat. (…)
Zweitens ist die sozialdemokratische Bewegung ihrem ureigensten Wesen nach international. Das bedeutet nicht nur, daß wir den nationalen Chauvinismus zu bekämpfen haben. Das bedeutet auch, daß die in einem jungen Lande einsetzende Bewegung nur erfolgreich sein kann, wenn sie die Erfahrungen der anderen Länder verarbeitet. Für ein solches Verarbeiten aber genügt die einfache Kenntnis dieser Erfahrungen oder das einfache Abschreiben der jüngsten Resolutionen nicht. Dazu ist notwendig, daß man es versteht, diesen Erfahrungen kritisch gegenüberzutreten und sie selbständig zu überprüfen. (...)
Drittens hat die russische Sozialdemokratie nationale Aufgaben, vor denen noch keine sozialistische Partei der Welt gestanden hat. (...) Jetzt möchten wir nur darauf hinweisen, daß die Rolle des Vorkämpfers nur eine Partei erfüllen kann, die von einer fortgeschrittenen Theorie geleitet wird. (…)
Wir wollen Engels’ Bemerkungen über die Bedeutung der Theorie in der sozialdemokratischen Bewegung anführen, die aus dem Jahre 1874 stammen (…): »Zum erstenmal, seit eine Arbeiterbewegung besteht, wird der Kampf nach seinen drei Seiten hin – nach der theoretischen, der politischen und der praktisch-ökonomischen (Widerstand gegen die Kapitalisten) – im Einklang und Zusammenhang und planmäßig geführt. In diesem sozusagen konzentrischen Angriffe liegt gerade die Stärke und Unbesiegbarkeit der deutschen Bewegung.« (Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Band 18, Seiten 516/517)
N. Lenin: Was tun?
Stuttgart 1902. Hier zitiert nach: Lenin, Werke, Band 5, Berlin 1966, Seiten 378–383
Wladimir Iljitsch Lenin