Kultur09. November 2010

Guy Helminger: Endstation Schwarze Berge?

In der Pressemitteilung des Eichborn-Verlags über Guy Helmingers »Neubrasilien« (1) lesen wir: »Luxemburg im Frühjahr 1828: Eine Gruppe von Landbewohnern, darunter die selbstbewusste Bauerntochter Josette, lässt all ihr Hab und Gut zurück und macht sich auf den Weg nach Brasilien, angelockt von den Anwerbern des brasilianischen Königs, die fruchtbaren Boden und ein gutes Leben versprechen. Der lange Treck marschiert in Mühsal zum Bremer Hafen...«

Ein Abschnitt weiter bringt uns einen gewaltigen Sprung durch die Zeit nach »Luxemburg, 170 Jahre später, kurz vor der Wende zum 21. Jahrhundert: Eine Gruppe montenegrinischer Flüchtlinge, darunter das Mädchen Tiha und ihre Familie, kommt nach Luxemburg. Auch sie haben ihr Zuhause verlassen und sind auf der Suche nach einem besseren Leben fernab von der kriegszerstörten Heimat...«

Soweit der Verlag, der das Parallele, nicht unbedingt Vergleichbare, und doch das gewissermaßen Verwandte, sich teilweise Wiederholende zweier dramatischen Geschichten belichtet, mit denen Guy Helminger jongliert. Auf dem mit dem Fragment einer alten Luxemburger Landkarte geschmückten Buchumschlag lesen wir übrigens »Roman« in der Einzahl. Das könnte selbstverständlich die natürliche Bescheidenheit des Autors widerspiegeln, der vielleicht nicht direkt mit seiner Doppelleistung prahlen wollte. Doch wird ab Seite 25 der Leser nach und nach eines Besseren belehrt. Bald merkt er nämlich, dass er zwei Romane liest, und zwar beinahe simultan. Nur schade, dass sich die Freude über das gute Geschäft (2=1) nach dem dauernden Pendeln zwischen zwei Erzählungen und dem ständigen zwischen Präsens und neunzehntem Jahrhundert »Hin-und-her-Geschoben-Werden« etwas mildern dürfte. Denn, liest man das Buch nicht in einem Zug (bei 315 Seiten schwierig), sondern in kurzer allabendlicher »Vorschlaflektüre«, verliert man schnell das Fädchen, ohne dafür unbedingt ein faules Mädchen zu sein.

Jetzt aber genug der immerhin gutmütigen Kritik! Lasst uns positiv sein. Guys Literatur ist und bleibt außerordentlich gute Literatur. Historisch hat er akribisch genau eine höchst konfuse Periode dokumentiert. Man denke an die Zeit, in der eine preußische Garnison in Luxemburg-Stadt hauste und die wenigsten Escher, Wahler oder Kerger mitunter wussten, ob sie Reichsbürger, Niederländer, Belgier oder Franzosen waren, beziehungsweise werden sollten. Und was die Errungenschaften des ehemaligen Punks (2) in gegenwärtigen Problematiken anbelangt: Hut ab! Ich denke an die sowohl gewerkschaftlichen als auch Schengen-Friedenschen Politikkenntnisse, die er an den Tag legt.

Im Bereich der Schilderung geselligen Umgangs, von Reibereien, sowie des Kneipengeplauders oder -gezänks nichts Neues; da ist ihm sowieso niemand gewachsen. Pittoreske Darstellungen garantiert! Einige Beschreibungen ziehen sich zwar etwas in die Länge, sind jedoch für das sich Einfühlen des Lesers in die erwähnten Milieus sehr nützlich. Doch hinter der glänzenden Sprachform und der flotten, hier witzigen, dort tragischen erzählerischen Gestaltung, also hinter einer gelungenen, auch wenn etwas langatmigen Dramaturgie, blickt der Leser auf einen düsteren Tatsachenbestand.

Und dieser hintergründige Tatbestand ist, vom Autor klar beabsichtigt und besser belichtet als in oberflächlichen Buchkritiken erwähnt, dass die Großen dieser Welt das kleine Volk beliebig wie Spielpuppen hin und her bugsieren, unter völliger Verachtung seines Rechts auf eine friedliche Existenz. In diesem noblen »Verrücktspiel«, heute Politik genannt, würfeln die hohen Herrschaften nach ihrem willkürlichen und immer nur kurzfristig interessierten Gutdünken. So damals Dom Pedro, König Brasiliens; so der Stadhouder der Niederlande, so die Herrscher Frankreichs, Preußens und Österreichs, die mit ganzen Landstrichen und Völkern Pingpong spielten; so vor Kurzem die EU-Mächte BRD, Frankreich, Italien, die mit USA-Hilfe Jugoslawien zerstückelt und in den Krieg gestürzt haben. Doch bleiben die meisten Marionetten des Geschehens heute wie damals resigniert und unterwürfig. Der Kampf gegen die Mächtigen der Welt und das ihnen treue Establishment scheint sogar den Aufmüpfigsten sinnlos. Die Wenigsten revoltieren, und wenn, nicht einmal politisch. Durch die Passivität und Resignation ihrer Nächsten erbittert, können diese Außenseiter gar zu selbstsüchtigen und rücksichtslosen Verbrechern werden.

Guy Helminger erzählt uns von der Gewerkschafterin Betty Hoschert, 1999 vor dem Findel bei einer friedlichen Demonstration gegen Asylantenabschiebung, und führt uns dann ins Asylantenleben ein, das der mit den Hoschert befreundeten Familie Kaljevic aus Montenegro. Etwas weniger als zwei Jahrhunderte früher führt uns Guy in den Alltag der Bauernfamilie Meier, die an dem Tuch der Armut nagt, von einem besseren Leben in Brasilien träumt, und dann auswandert. Was für die Einen Luxemburg, war für die Anderen Brasilien: zwei Fata Morganas, die sich... Nein, Stopp, es kommt nicht in Frage, dass ich weitererzähle und so einem unserer brillantesten Luxemburger Schriftsteller vorauseile. Warum sollte ich Sie, liebe Leser, um die Entdeckungsfreude an den zwei interessanten, wenn auch nicht immer restlos spannenden Geschichten bringen?

Selbstverständlich dürften sich die zwei schicksalsmäßig ähnlich fließenden Geschichten, nach dem eher mit drei Pünktchen als mit einem Schlusspunkt zu versehenen Wort Ende, zu einem »Roman« verschmelzen. »Neubrasilien« war ein unwirtliches »No man’s land« zwischen Grossbous, Heiderscheid und Wahl (3), eigentlich nichts weiter als ein Puzzle großflächiger Asylantenlager! Ihrerseits hatten es die Montenegriner, trotz der Härte ihres Schicksals und der armseligen Bewirtung, im Esch des 21. Jahrhundert besser. Beide sind jedoch nicht als Endstationen gedacht... (4) Einige treten manchmal jahrelang auf der Stelle, verzweifeln, werden vertrieben; einige unter den Verzweifelten und Mutigsten pilgern weiter. Hie und da Happy End möglich? Ob die ausgewiesenen Montenegriner in ihrem ruinierten Stückchen Bergheimat ihre Chance bekommen? Und könnten es Anno dazumal Josette und Nicolas bis in die Schwarzen Berge geschafft haben? Könnten ihre Nachkommen siebzehn Jahrzehnte später wieder nach Luxemburg gekommen sein, um wieder kurz darauf nach Montenegro abgeschoben zu werden? »Fatalitas!« würde hier Gaston Leroux’ Heldeld Cheri-Bibi ausrufen; kaum jedoch Guy Helminger, der eher den sturen Egoismus der damaligen engstirnigen Marienland-Bauern stigmatisiert, die die »Brasilianer« zur Verzweiflung trieben. (5)

* * *
1) »Neubrasilien«, Roman von Guy Helminger, Eichborn-Verlag, September 2010, 315 Seiten.

2) Guy Helmingers »Die Ruhe der Schlammkröte«, 2007 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, 228 Seiten.

3) Heute Grevels, Gemeinde Wahl.

4) Einen interessanten Einblick in Luxemburgs Asylantenproblem und die entsprechenden Aufnahmeeinrichtungen gibt u.a. Nathalie Oberweis’ vorzüglicher Artikel »L’espoir en sourdine« im »Lëtzebuerger Land« vom 22. Oktober.

5) Marienland-Bauern, deren Nachfahren heute oft eine Regierung stellen, deren Mitgliedern dieser Roman kräftig ins Gewissen reden dürfte. Zwar schreibt Guy Helminger nichts dergleichen. Doch »À bon entendeur salut!«

Giulio-Enrico Pisani