Abfuhr für die Kolonialmacht
Vor 200 Jahren gaben sich die Mexikaner eine Verfassung und proklamierten die Republik
In der vergangenen Woche trat mit der 62 Jahre alten Physikerin Claudia Sheinbaum zum ersten Mal eine Frau das Amt an der Spitze der 200 Jahre zuvor gegründeten Republik Mexiko an. Die wie ihr Vorgänger Andrés Manuel López Obrador der sozialdemokratischen Partei Morena angehörende Politikerin will das von López Obrador begonnene Projekt der »Vierten Transformation« fortführen, die beide als Weiterentwicklung dreier bedeutender historischer Prozesse verstehen.
Dazu gehören die Unabhängigkeit von Spanien (1810–1821), erfolgreiche Reformen gegen konservative Kräfte (1858–1862) und die mexikanische Revolution (1911–1917). Als eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Entwicklung der ehemaligen Kolonie zu einem unabhängigen Staat wurde, am 4. Oktober 1824, eine neue Verfassung verabschiedet, die das größte spanischsprachige Land der Welt offiziell zur Republik erklärte.
Kampf um Unabhängigkeit
Mexikos Übergang von einer Monarchie zur föderalen Republik war ein bedeutender Wendepunkt in der Geschichte des Landes und beeinflußte dessen politischen und sozialen Verlauf nachhaltig. Wie die meisten südlichen Nachbarn in der Region war das zu dieser Zeit noch als »Neuspanien« bezeichnete Land jahrhundertelang Teil des spanischen Kolonialreiches. Bis der Landpfarrer Miguel Hidalgo am 16. September 1810 die Glocken in der Stadt Dolores Sturm läuten ließ und die meist aus Indigenen bestehenden Mitglieder seiner Gemeinde aufrief, »für die Unabhängigkeit und Befreiung vom Joch der Kolonialherren« zu kämpfen.
Vor zunächst 100 Anhängern schwenkte Hidalgo die Standarte der Jungfrau von Guadalupe und forderte die Zuhörer mit dem berühmten »Grito de Dolores« dazu auf, »von den verhaßten Spaniern das Land zurückzuholen, das sie euren Vorfahren vor 300 Jahren geraubt haben«.
In weniger als sechs Wochen folgten ihm mehr als 100.000 mit Macheten, Hacken, Schleudern, Pfeil und Bogen bewaffnete Arbeiter der Minen und der Haziendas. Dem revolutionären Priester, der nach einem gescheiterten Marsch auf die Hauptstadt hingerichtet wurde, folgte der Pfarrer José María Morelos. Wie Hidalgo forderte auch er das Ende der spanischen Herrschaft, die Abschaffung von Sklaverei und Rassismus und eine Neuaufteilung des Landes. »Als Feinde gelten alle Reichen und Adligen«, skandierte er.
Der bürgerkriegsartige Konflikt, bei dem eine halbe Million Menschen umkam, wurde 1821 mit dem Vertrag von Córdoba beendet, in dem die Unabhängigkeit Mexikos anerkannt und die spanische Herrschaft beendet wurde. Doch danach setzten sich zunächst konservative Kräfte durch, die eine konstitutionelle Monarchie etablierten. Agustín de Iturbide, ein ehemaliger Anführer der Unabhängigkeitsarmee, wurde 1822 zum Kaiser gekrönt. Unzufriedenheit mit seiner autoritären Regierungsführung, politische Instabilität und wirtschaftliche Schwierigkeiten zwangen ihn jedoch 1823, ins Exil zu gehen. Damit war der Weg für eine republikanische Regierungsform geebnet.
Enorme Herausforderungen
Nach Iturbides Sturz beriefen mexikanische Politiker einen Kongreß ein, um eine neue Verfassung auszuarbeiten. Am 24. Januar 1824 wurde ein als »Gründungsakte der Mexikanischen Föderation« bezeichnetes Dokument verabschiedet, das die wesentlichen Grundlagen dafür festlegte. Das Ergebnis war die Verfassung von 1824, die Mexiko nach der Verkündung durch ihren ersten Präsidenten, General Guadalupe Victoria, am 4. Oktober in eine föderale Republik verwandelte, ähnlich dem Modell der USA.
Die aus sieben Titeln und 171 Artikeln bestehende Verfassung legte die Grundlage für eine republikanische Regierung, die von einem Präsidenten geleitet wird, der zugleich Staatsoberhaupt ist. Zu den bedeutendsten Artikeln gehören die ersten sechs, in denen die Vereinigten Mexikanischen Staaten als freies und unabhängiges Land erklärt werden. Ebenso definieren sie die Grenzen des Staatsgebiets, proklamieren eine einzige Religion, legen die Bundesstaaten fest und bestimmen die Aufteilung der höchsten Gewalt des Bundes in Legislative, Exekutive und Judikative.
Doch obwohl die Ausrufung der Republik ein entscheidender Schritt für die Unabhängigkeit war, stand die neue Regierung vor enormen Herausforderungen. Mexiko war verschuldet und politisch gespalten zwischen Reformern und konservativen Eliten. Die Spannungen führten in den folgenden Jahrzehnten zu zahlreichen Unruhen, Aufständen und Militärputschen.
Ein weiteres großes Problem war die territoriale Integrität des Landes. Mexiko erstreckte sich nach der Unabhängigkeit über ein riesiges Terrain, das bis in den heutigen Südwesten der USA reichte. Weil die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika ihre Macht und ihren Einfluß ausweiten wollte, annektierten die USA 1845 die mexikanischen Gebiete Texas und Kalifornien, wo sie, wie der 2015 verstorbene uruguayische Journalist Eduardo Galeano schrieb, »im Namen der Zivilisation die Sklaverei wieder einführten«.
Nach dem Einmarsch der USA-Truppen begann ein Krieg, in dessen Verlauf Mexiko mit den heutigen USA-Staaten Colorado, Arizona, New Mexico, Nevada und Utah über die Hälfte seines damaligen Territoriums verlor.
»Armes Mexiko«, heißt es seitdem, »so fern von Gott und so nah an den Vereinigten Staaten«. Zwanzig Jahre nach der Verkündung war der erste Artikel der Verfassung von 1824 bereits Makulatur. Er lautete: »Die mexikanische Nation ist unabhängig, souverän und frei von der spanischen Regierung und von jeder anderen Nation.«
Alte Probleme
Dennoch legte die Ausrufung der Republik, mit der Kolonialherrschaft und Monarchie beseitigt wurden, den Grundstein für die Unabhängigkeit des Landes und schuf die Voraussetzung, die Macht der alten Kolonialeliten und lokalen Oligarchen zu brechen. Das ist indes bis heute nicht gelungen. Mexiko ist weiterhin mit tiefen sozialen Ungleichheiten, Armut und Bandenterror konfrontiert.
Mit der »Vierten Transformation« versuchte der scheidende Präsident López Obrador, den neoliberalen Kurs der früheren Regierungen zu ändern. Sie umfaßte zunächst eine Reihe von Sozialprogrammen, die Erhöhung des Mindestlohns und der Renten, den Abbau der Armut und die Förderung der lateinamerikanischen Integration gegen die Dominanz Washingtons. Er verurteilte die Blockade der USA gegen Kuba, verweigerte jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten Venezuelas, wandte sich gegen die Staatsstreiche in Bolivien und Peru und brach nach dem Überfall auf die mexikanische Botschaft in Quito die Beziehungen zum rechten Regime von Daniel Noboa in Ecuador ab.
Präsidentin Claudia Sheinbaum scheint ihr Versprechen, »Continuidad« zu wahren, durchaus ernst zu nehmen. Dem Monarchen der früheren Kolonialmacht Spanien erteilte sie eine Abfuhr, indem sie ihn nicht zu ihrer Amtseinführung einlud.