Ausland05. Oktober 2023

Kampf um echte Entkolonialisierung

Mali, Burkina Faso und Guinea läuten vor UNO-Generalversammlung neue Zeiten ein. Niger Rederecht verweigert

von Jörg Kronauer

Für die drei Staaten des Sahel, die sich zur Zeit mit aller Macht aus dem Klammergriff der einstigen Kolonialmächte Europas zu lösen versuchen, begann die diesjährige Generaldebatte der UNO in New York am 20. September mit großem Ärger.

Der Zeitplan sah vor, daß Malis Außenminister Abdoulaye Diop sich am Samstag mit der üblichen Rede an die Weltöffentlichkeit wenden konnte. Für Burkina Fasos Staatsminister Bassolma Bazié war ebenfalls Zeit für eine Ansprache eingeplant. Nigers neuer Außenminister Bakary Yaou Sangaré aber suchte in den Unterlagen vergeblich nach dem Tag, an dem er sich im Namen seines Landes an die versammelten UNO-Mitgliedstaaten hätte wenden können: Er stand nicht auf der Liste. Empört fragte er bei den zuständigen Stellen der UNO nach.

Die Antwort, die Sangaré erhielt? Nun, außer ihm hatte auch Hassoumi Massaoudou, einst Außenminister des Ende Juli gestürzten Präsidenten Mohammed Bazoum, Rederecht beantragt. Massaoudou begründete das damit, der Umsturz, der Bazoum entmachtet habe, sei illegal. Bazoum sei daher, juristisch gesehen, weiter Nigers rechtmäßiger Präsident und er weiter rechtmäßiger Außenminister.

Wohl unter argem Druck stehend – die EU-Staaten dringen darauf, die Übergangsregierung in Niamey nicht anzuerkennen –, entschied UNO-Generalsekretär António Guterres, die Entscheidung, wer für Niger sprechen dürfe, einer speziell für solche Streitfälle geschaffenen UNO-Kommission zu übertragen. Die aber tagt erst wieder irgendwann im Herbst. Die UNO erteilte also weder Sangaré noch Massaoudou Rederecht – Niger, Opfer »europäischer« Intrigen, kam nicht zu Wort.

Dreierbündnis hält stand

Die UNO-Generaldebatte wurde damit zur ersten kleinen Bewährungsprobe für die am 16. September gegründete Alliance des États du Sahel (AES). Zu ihr haben sich Mali, Burkina Faso und Niger zusammengeschlossen, um sich gemeinsam zu verteidigen – wenn nötig, gegen eine Invasion von außen, mit der die westafrikanische Wirtschafts-Regionalorganisation ECOWAS Niger seit dem Putsch in Niamey bedroht, sonst aber auch gegen in ihrem Innern operierende Dschihadistenmilizen.

In New York zeigte sich, daß ihr Dreierbündnis darüber hinaus gegen politische Attacken standhält. Der burkinische Staatsminister Bazié beschwerte sich in seiner Rede über das »schmutzige Manöver«, mit dem Niger zum Schweigen gebracht worden sei. Der malische Außenminister Diop erklärte, er spreche im Namen nicht nur seiner, sondern auch der nigrischen Regierung – denn die werde ja von der UNO daran gehindert, sich vor der Welt zu präsentieren.

Dabei ließen Diop und Bazié nicht den geringsten Zweifel daran, daß ihre Staaten den Kampf um wirkliche Unabhängigkeit vor allem von der einstigen Kolonialmacht Frankreich fortsetzen wollen – »unser Schicksal in unsere eigenen Hände nehmen«, wie Bazié es in New York formulierte. Diop betonte, Malis Regierung lege besonderen Wert auf die »souveräne Gleichheit der Staaten«. Daraus ergebe sich, daß sie »die Aktivitäten gewisser Mächte« ablehne, die klar darauf abzielten, »eine neokoloniale Dominanz zu verstetigen und andere Bevölkerungen, andere Länder und andere Nationen zu unterwerfen«. Explizit sprach er sich auch gegen Sanktionen aus, wie sie die ECOWAS zuletzt – unter lautem Beifall der EU – gegen Niger verhängte. Daß Frankreich das Regionalbündnis instrumentalisiere, um in einem »neokolonialen und paternalistischen Vorgehen Bruderländer gegeneinander auszuspielen«, sei »bedauerlich«, konstatierte Diop.

»Schlechte Verteilung der Reichtümer«

Ganz auf dieser Linie argumentierte auch Mamady Doumbouya, Übergangspräsident Guineas und wie seine Amtskollegen in Mali, Burkina Faso und Niger in einem Umsturz an die politische Macht gelangt. Doumbouya warf die Frage auf, wie es denn eigentlich dazu gekommen sei, daß seit drei Jahren in Westafrika ein Staatsstreich dem anderen folge. Dafür gebe es »sehr tiefe Gründe«, erläuterte er.

So sei in der Region eine »schlechte Verteilung der Reichtümer« zu beklagen: Wenn diese sich in den Händen »einer Elite« befänden, »während Neugeborene in den Krankenhäusern sterben, weil es keine Brutkästen gibt«, dann müsse man sich über einen Umsturz nicht wundern. Zumal, wenn Staatschefs sich darüber hinaus vorrangig darum kümmerten, ihre Amtszeit über die legalen zwei Amtszeiten hinaus zu verlängern. Die Aussage zielte auf den guineischen Expräsidenten Alpha Condé, den Doumbouya aus dem Amt geputscht hatte, womöglich aber auch auf Alassane Ouattara, den in dritter Amtszeit regierenden Präsidenten der Côte d’Ivoire, der als loyaler Handlanger Frankreichs und zur Zeit als einer der Scharfmacher gegen die nigrische Führung gilt.

Aber rechtfertigt das einen Putsch? Nun, das Regierungsmodell, das die Kolonialmächte den Staaten Afrikas aufgenötigt hätten, funktioniere nur für wenige, kritisierte Doumbouya. Da gebe es Staatschefs, die in Würdigung »ihrer Folgsamkeit oder ihrer Fähigkeit, die Ressourcen und das Hab und Gut ihrer Bevölkerungen zu verschleudern«, ohne weiteres »als Demokraten zertifiziert« würden oder auch einfach, weil sie »den Befehlen gewisser internationaler Institutionen Folge leisten«, die »im Dienst der Großmächte stehen«. Allzuoft vernachlässigten sie dabei »das Wohlergehen der Bevölkerung«.

Von diesem System müßten sich die Staaten Afrikas verabschieden und statt dessen ihre eigenen Wege gehen, strikt in ihrem eigenen Interesse. »Wir sind weder pro- noch antiamerikanisch, weder pro- noch antichinesisch, weder pro- noch antifranzösisch«, erklärte Doumbouya, »wir sind einfach proafrikanisch.«

Für die einstigen Kolonialmächte sei nun »der Moment« gekommen, »damit aufzuhören, uns Lektionen zu erteilen«. Diese Botschaft war in New York immer wieder deutlich zu hören. Afrika hat den Kampf um eine echte Entkolonialisierung erneut aufgenommen.

Schicksal in die eigenen Hände nehmen

Die Einsätze von UNO-»Blauhelmtruppen« auf dem afrikanischen Kontinent sind während der Generaldebatte härter denn je kritisiert worden. Minusma, die rund 15.000 Personen starke UNO-Truppe in Mali muß pünktlich zum Jahresende abgezogen sein: Das bestätigte der malische Außenminister Abdoulaye Diop.

Im nächsten Schritt geht es nun Monusco an den Kragen, der UNO-Truppe in der Demokratischen Republik (DR) Kongo. Die wurde bereits 1999 etabliert; ihre Hauptaufgabe besteht darin, im Osten des Landes für Sicherheit zu sorgen. Das gelingt nicht im Geringsten, weshalb die Frage, ob sie aufrechterhalten werden soll, bereits seit einiger Zeit zur Debatte steht. Monusco müsse abgezogen werden, und dies solle noch in diesem Jahr beginnen, forderte der kongolesische Präsident Félix Tshisekedi nun in New York.

Nun ist Tshisekedi für Versprechungen bekannt, aber nicht unbedingt dafür, sie zu halten. Im Dezember stehen in der DR Kongo Wahlen bevor, was der Präsident als Anlaß für neue populäre Ankündigungen begreifen mag. Populär ist die Forderung nach einem Monusco-Abzug im Ostkongo in der Tat. Der furchtbare Krieg dort tobt seit Jahrzehnten, weil vor allem Ruanda, in gewissem Maß auch Uganda illegal die Rohstoffe des Landes plündern und dazu allerlei Milizen über die Grenze schicken.

Die zur Zeit am schlimmsten wütende Miliz ist der von Kigali gesteuerte Mouvement du 23 mars (»M23«). Er sichert Schmuggel von Rohstoffen nach Ruanda, deren Wert sich nach Angaben des kongolesischen Finanzministers Nicolas Kazadi auf fast eine Milliarde US-Dollar pro Jahr beläuft. Das wissen im Ostkongo alle; daß der UNO-Einsatz nichts dagegen ausrichten kann, da Ruanda westliche Unterstützer hat – die, nebenbei, im Gegenzug unerwünschte Flüchtlinge in dem Land abladen wollen –, ist in den grenznahen Gebieten ebenfalls allgemein bekannt.

Und so wundert es auch nicht, daß die Bevölkerung die Nase voll hat und den Abzug der Monusco fordert, die seit fast einem Vierteljahrhundert durch die DR Kongo patrouilliert, ohne erkennbar Sinnvolles zu bewirken. Immer wieder kommt es zu Straßenprotesten. Ende August machten sie sogar im sonst desinteressierten Westen Schlagzeilen, weil Kongos Militär bei einem Einsatz gegen Monusco-Kritiker in der Stadt Goma an der Grenze zu Ruanda vermutlich mehr als 60 Zivilisten ermordete.

Daß Tshisekedi in New York den Abzug der UN-»Blauhelme« forderte, mag ein billiges Versprechen sein. Was er dazu äußerte, entspricht jedoch der Haltung in einem wachsenden Teil der Bevölkerung: »Es ist Zeit für unser Land, sein Schicksal in vollem Umfang in die eigenen Hände zu nehmen und der Hauptakteur seiner Stabilität zu sein.« Das aber geht letztlich nur konsequent ohne Einmischung aus dem Ausland, in welcher Form auch immer.