Ausland09. Juni 2022

»Der Zerfall der Republik«

Privatisierung des öffentlichen Dienstes in Frankreich

von Hansgeorg Hermann

Der Staat als Firma? Sogenannte Unternehmens- und Strategieberater haben im vergangenen Jahr in Frankreich rund eine Milliarde Euro aus dem Haushalt der Republik eingesackt – vor allem, um den jüngst wiedergewählten Präsidenten Emmanuel Macron bei der Privatisierung der öffentlichen Dienste anzuleiten. Große internationale Agenturen wie der US-amerikanische »Dienstleister« McKinsey & Company haben in Paris so viel Einfluß wie nie zuvor. Sie halfen dem alten und neuen Staatschef nicht nur, im Juni 2017 die erste und vor einem reichlichen Monat die zweite Präsidentschaftswahl zu gewinnen. Ihre Idee des »New Public Management« scheint unter Macron Grundlage der Regierungspolitik geworden zu sein. Das legt ein jüngst veröffentlichter Bericht des Senats nahe, auf dessen Grundlage nun Ermittlungen gegen McKinsey eingeleitet wurden.

Den öffentlichen Sektor nicht nur wie ein Unternehmen zu führen, sondern ihn am Ende auch tatsächlich in private Hände zu legen, sei das eigentliche Ziel dieser Zusammenarbeit zwischen McKinseys hochbezahlten Agenten und der Politik, sagte der Pariser Schriftsteller Nicolas Mathieu neulich der Tageszeitung »Libération«. Nicolas Mathieu ist nicht irgendwer in Frankreich. Seine Themen sind die sozialen Folgen der Deindustrialisierung und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Verwerfungen. Für den Roman »Leurs enfants après eux« gewann er 2018 den Prix Goncourt, den wichtigsten Literaturpreis des Landes. »Unter dem Vorwand, eine neutrale und quasi wissenschaftliche Expertise zu produzieren«, schreibt Mathieu über den Einsatz von McKinsey und Konsorten, »orientiert diese Plage unserer Tage die Politik in einem keineswegs neutralen Sinn – es geht um immer mehr Wettbewerb, um wachsende Produktion für weniger Geld.«

Die enge Zusammenarbeit des Präsidenten mit McKinsey hatte in den fünf Jahren seines ersten Mandats auch personelle Konsequenzen. Einige der eben noch in den Wahlkampfbüros für die richtige Ausrichtung des finanz- und gesellschaftspolitischen Programms des Kandidaten Macron sorgenden »Berater« wechselten nach dem Sieg ihres Champions geradewegs in die Führungsetagen der Regierung. Um den Ministern auf die Finger zu schauen – womöglich auch, um ihrem vorherigen Arbeitgeber McKinsey mehr als 40 Aufträge für »beratende Arbeit« zu sichern, wie Macrons Konkurrenten um die Präsidentschaft im März vermuteten.

Fabien Roussel; Nationalsekretär und Präsidentschaftskandidat der Französischen Kommunistischen Partei (PCF), bezeichnete den verdeckten Einsatz der »Unternehmensberater« aus den USA in allen Hinterzimmern der Regierung »der Zerfall der Republik«.

Die von Fabien Roussel und dem inzwischen zum neuen Führer der versammelten politischen Linken Frankreichs erkorenen Jean-Luc Mélenchon befürchtete fortschreitende Einflußnahme sowohl auf das politische Tagesgeschäft, aber auch auf dessen ideologischen Überbau, ist längst Realität. Die neoliberale »Evolution«, wie Nicolas Mathieu die politische Wühlarbeit der »Berater« nennt, komme direkt aus dem Zentrum des Systems, der »homogenen Ausbildung der Eliten«. Mathieu: »Private und staatliche Eliten entsteigen derselben Gußform – den ›Grands Ecoles‹, wie der Ecole Nationale d’Administration (ENA) oder des Institut für Politische Studien (Sciences Po)« Meist hätten die den Schwerpunkt Ökonomie. »Auch das bleibt nicht ohne Einfluß.«

Macron mag sich nach Ansicht der Senatskommission am auffälligsten der Dienste des US-amerikanischen Beratungsriesen versichert haben, der einzige war und ist er nicht. Schon seine Vorgänger, der bürgerliche Rechte Nicolas Sarkozy ebenso wie der Sozialdemokrat François Hollande, öffneten McKinsey, der Eurogroup und Capgemini die Tore zum Palais Élysée und zu den Ministerien. Aus dem früheren Geschäft im eher privatwirtschaftlichen Raum haben sich diese Unternehmen seit Jahren auch in die öffentlichen Dienste und die Politik geschlichen. (In Deutschland hatte 2014 die damalige Kriegsministerin Ursula von der Leyen mit wohlwollender Duldung von Kanzlerin Angela Merkel eine McKinsey-Führungskraft zur Staatssekretärin gemacht.)

Mit seinen weltweit 30.000 unter Gehalt stehenden Leuten hat McKinsey, vor allem in der EU, wichtige Bereiche des lukrativen, mit vielen Milliarden Euro Steuergeldern gefütterten Marktes der öffentlichen Dienste erobert. Mit einem inzwischen, wie der Schriftsteller Mathieu ebenso wie die Politiker Roussel und Mélenchon fürchten, verheerenden Einfluß auf die Gesellschaftspolitik einer Zukunft, die bereits begonnen hat.