Ausland19. Juli 2022

Maßnahme gegen Syrien

Grenzüberschreitende Hilfslieferungen an Dschihadisten werden weitere sechs Monate fortgeführt. Syriens Regierung fordert deren Einstellung

von Karin Leukefeld

Der UNO-Sicherheitsrat hat am Dienstag vergangener Woche die grenzüberschreitenden Hilfslieferungen aus der Türkei in die nordwestsyrische Provinz Idlib über den Grenzübergang Bab al Hawa um sechs Monate verlängert. Nachdem Rußland zunächst sein Veto gegen eine Verlängerung um ein Jahr eingelegt hatte, hatten die westlichen Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates – Frankreich, Britannien und die USA – einen von Rußland vorgelegten Vorschlag für eine Verlängerung um sechs Monate abgelehnt.

Verabschiedet wurde dann allerdings eine Verlängerung um sechs Monate bis zum 10. Januar 2023. Um die Maßnahme erneut zu verlängern, wird dann eine weitere Resolution erforderlich sein. 12 der 15 Mitgliedstaaten im UNO-Sicherheitsrat stimmten für diese Resolution. Drei Länder – Frankreich, Britannien und die USA – enthielten sich.

Die Ausnahmeregel

Grenzüberschreitenden Hilfslieferungen in ein Land sind nur möglich mit einer vom UNO-Sicherheitsrat autorisierten Ausnahmeregel, da die Maßnahme die Souveränität des betroffenen Landes, in diesem Fall Syrien, außer Kraft setzt. Die Ausnahmeregelung sieht vor, daß der souveräne Staat Syrien keine Möglichkeit hat, die Lieferungen über seine Grenze zu kontrollieren, und sie widerspricht damit dem humanitären Völkerrecht. Das regelt, daß humanitäre Hilfe von außerhalb in einen souveränen Staat mit diesem koordiniert werden muß. Die einzigen Organisationen, die in Syrien sich an dieses Recht halten, sind UNO-Hilfsorganisationen und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz.

Die Ausnahmeregelung der grenzüberschreitenden Hilfe wurde in Syrien erstmals 2014 für vier Grenzübergänge beschlossen. Damals herrschte in weiten Landesteilen Krieg und Hilfslieferungen für die betroffene Bevölkerung konnten nicht alle Gebiete erreichen.

Nach der Befreiung der syrischen Wirtschaftsmetropole Aleppo von den regierungsfeindlichen Dschihadisten im Dezember 2016, hat sich die Lage im Land militärisch weitgehend beruhigt. Allerdings gibt es mit Idlib im Nordwesten, mit Azaz und Al Bab im Norden und mit dem Nordosten Syriens weiterhin Gebiete, die nicht oder nur teilweise unter der Kontrolle der syrischen Regierung stehen.

Hilfe aus der Türkei stärkt Dschihadisten

Im Nordosten halten USA-Truppen die Ölfelder Syriens besetzt, und die Ressourcen Öl, Weizen und Baumwolle werden von den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF), die nicht mit der syrischen Regierung kooperieren, kontrolliert und verkauft. Gebiete im Norden und im Nordwesten werden von bewaffneten islamistischen Verbänden kontrolliert, die von türkischen Streitkräften unterstützt werden, einer NATO-Armee. Weite Gebiete werden »türkisiert«.

Nun gibt es nur noch den Grenzübergang Bab al Hawa, über den Hilfslieferungen ausschließlich nach Idlib und in die von der Türkei kontrollierten Gebiete gelangen. Idlib wird von den Gotteskriegern der Hay’at Tahrir al Sham (Bündnis zur Befreiung der Levante, HTS) bzw. von einer »Regierung der Erlösung« kontrolliert, die von HTS eingesetzt wurde. Bei HTS handelt es sich um eine islamistische Nachfolgeorganisation der Nusra Front, die sich als »Arm von Al Qaida in Syrien« bezeichnet. Die UNO und zahlreiche Staaten haben HTS als Terrororganisation gelistet.

Hintergrund des Streits im UNO-Sicherheitsrat zwischen den westlichen Mächten auf der einen und Rußland und China auf der anderen Seite ist, daß die grenzüberschreitende Hilfe nach Idlib vor allem die Souveränität Syriens für das Gebiet außer Kraft setzt. Darüber hinaus stärken die Hilfslieferungen die Al Qaida-Allianz HTS, die die Lieferungen kontrolliert und sich daran bereichert.

Syrien fordert die Einstellung der grenzüberschreitenden Hilfe. Stattdessen soll Hilfe in Zukunft wie vom humanitären Völkerrecht vorgesehen über die Hauptstadt Damaskus im Land verteilt werden. Eine weitere Forderung Syriens und seiner Verbündeten ist die Einhaltung aller Punkte der Resolution. Dazu gehört auch ein regelmäßiger Bericht des UNO-Generalsekretärs über die grenzüberschreitenden Lieferungen, einschließlich der gelieferten Hilfen.

Die Resolution 2585

Die Resolution 2585 des UNO-Sicherheitsrats bekennt sich ausdrücklich zur Souveränität, Unabhängigkeit, Einheit und territorialen Integrität Syriens. Weiter heißt es darin, die Bemühungen für frontlinienüberschreitende Hilfslieferungen innerhalb Syriens sollten ebenso verstärkt werden wie die »Unterstützung bei der Wiederherstellung notwendiger Versorgung mit Wasser, sanitären Anlagen, Gesundheit, Bildung und Wohnen«.

Diese Hilfe für »early recovery projects« – »Projekte zur zügigen Wiederherstellung« ziviler Infrastruktur, soll nach Angaben von UNO-Generalsekretär António Guterres mehr als »ein Viertel« der von der UNO beantragten Hilfe für Syrienbetragen. 4,4 Milliarden US-Dollar sind für die Hilfe innerhalb Syriens gedacht. Mit 5,6 Milliarden US-Dollar sollen syrische Flüchtlinge in der Region und deren Aufnahmestaaten unterstützt werden.

Es sei wichtig, »Bedingungen zu schaffen, die eine freiwillige, sichere und würdige Rückkehr von Flüchtlingen und Vertriebenen« ermöglichten, sagte António Guterres am 20. Juni im UNO-Sicherheitsrat. Die Programme zur Wiederherstellung von Krankenhäusern, Schulen, Wasserversorgungsanlagen und grundlegender Infrastruktur würden Arbeitsplätze schaffen, die Menschen könnten Geld zur Versorgung ihrer Familien verdienen.

Streit über Verlängerung

Mit Kritik haben westliche Staaten und Hilfsorganisationen an der sechsmonatigen Verlängerung der grenzüberschreitenden Hilfe für Idlib nicht gespart. Rußland habe sich durchgesetzt, hieß es ärgerlich, die »Planungssicherheit für die Wintermonate« sei gefährdet.

Das so genannte »Internationale Regionalforum Syrien« (SIRF), das 73 (!) internationale und syrische Nichtregierungsorganisationen (NGO) vertritt, die in Idlib arbeiten, sowie das »Nordwest-Syrien NGO-Forum«, deren zahlenmäßig nicht bekannten Organisationen u.a. aus Jordanien für Idlib arbeiten und von der EU-Organisation für Humanitäre Hilfe (ECHO), dem britischen Außenministerium, Irland und der Schweiz finanziert werden, forderten eine rasche Entscheidung für die Fortsetzung der grenzüberschreitenden Hilfstransporte nach den sechs Monaten.

Die Organisation Care bemängelte, es sei eine »unnötige Belastung für die Menschen« daß sie »in den harten Wintermonaten ohne Hilfe« dastehen könnten. Die Deutsche Welthungerhilfe kritisierte, die Entscheidung verschärfe »den Kreislauf der ständigen Vorratshaltung und Notfallplanung zu einer Zeit, in der der Bedarf an humanitärer Hilfe größer denn je« sei. Die 1962 vom damaligen Bundespräsidenten Heinrich Lübke gegründete Welthungerhilfe ist eine deutsche staatliche Hilfsorganisation und wird überwiegend mit deutschen Regierungsgeldern, vom Welternährungsprogramm (WFP) und der EU-Kommission finanziert.

Die USA-Botschafterin bei der UNO, Linda Thomas-Greenfield, erklärte, die USA hätten sich bei der Abstimmung enthalten, weil Rußland das Mandat »als Geisel genommen« habe. Der Ansatz der USA sei »anders als der von Rußland, von humanitären Bedürfnissen geleitet«, erklärte die Botschafterin. »Kinder werden frieren, Menschen werden verhungern, Menschenleben stehen auf dem Spiel.« Man habe kein Veto eingelegt, »weil sechs Monate Hilfslieferungen für das syrische Volk besser als nichts« seien. 2021 habe die UNO monatlich 800 Lastwagenlieferungen in den Nordwesten Syriens gebracht und damit 2,4 Millionen Menschen jeden Monat erreicht.

Rußland: Interessen anderer respektieren

Der stellvertretende russische Botschafter Dmitri Poljanski erklärte im Sicherheitsrat, die Welt beschränke sich nicht auf die »westlichen Staaten« und es sei an der Zeit, daß Washington, London und Paris anfangen, die Interessen anderer Staaten zu respektieren, besonders diejenigen, auf die sich Entscheidungen des UNO-Sicherheitsrates in erster Linie auswirkten. Jetzt gebe es eine neue Chance, um die Resolution ernsthaft und in allen Aspekten umzusetzen. Die Berichte des UNO-Generalsekretärs in Sachen grenzüberschreitender Hilfslieferungen seien noch nicht ausreichend. Wichtig sei, die frontlinienüberschreitenden Hilfslieferungen auszubauen und alle Hindernisse zu beseitigen, die im Zusammenhang mit COVID-19 durch einseitige Sanktionen bestünden. »Wir müssen dieses Problem in Syrien lösen, damit Geber mehr Möglichkeiten haben, in frühzeitige Wiederaufbauprojekte in Syrien zu investieren«, betonte der Vertreter Rußlands.

Die USA, die EU und Deutschland weisen bisher jede Unterstützung für einen Wiederaufbau in Syrien zurück. Auch die Aufhebung der einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen bleibt in Brüssel und Berlin ausgeschlossen. Die UNO-Sonderberichterstatterin für die Auswirkungen von einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen, Alena Douhan, erklärte gegenüber dem UNO-Sicherheitsrat dagegen, die Maßnahmen verletzten die Menschenrechte und verhinderten den Wiederaufbau und die Rückkehr der Flüchtlinge.

Der frühere Botschafter Deutschlands bei der UNO, Christoph Heusgen, jetzt Leiter der Münchner »Sicherheitskonferenz«, sprach sich kürzlich bei einer Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung offen gegen den Wiederaufbau ziviler Infrastruktur im Rahmen von frühzeitigen Wiederaufbauprojekten in Syrien aus. Man dürfe keinesfalls mit Damaskus oder Moskau zusammenarbeiten, forderte Heusgen sinngemäß. Der Wiederaufbau von Schulen und Häusern nutzten nur denjenigen, die Assad ausgesucht habe.

Die humanitäre Intervention

Der vom UNO-Sicherheitsrat für sechs Monate verlängerte grenzüberschreitende Mechanismus (Cross Border Mechanism, CBM) zur Lieferung humanitärer Hilfe aus der Türkei ist nicht für Syrien, sondern ausschließlich für den Teil der nordwestsyrischen Provinz Idlib gedacht, der von Hay’at Tahrir al Sham (HTS) und der Türkei kontrolliert wird. Das Gebiet hat für den Westen und für die Türkei strategische Bedeutung. CBM ist eine humanitäre Intervention.

Unter der Vorgabe, humanitäre Hilfe zu leisten, passieren seit Jahren tausende Lastwagen ausländischer Organisationen die Grenze, ohne von Syrien, in das sie fahren, kontrolliert werden zu können. Zahlreiche dieser Organisationen werden von ihren Herkunftsstaaten finanziert und nehmen als »soft power«, als Mittel der Außenpolitik, direkten Einfluß in die gesellschaftlichen und politischen Strukturen eines souveränen Staates, der militärisch, diplomatisch, wirtschaftlich, juristisch und mit Sanktionen von den Geberländern bekämpft wird.

Rückkehr nicht vorgesehen

Als »Partner« der westlichen Organisationen werden syrische Organisationen im Operationsgebiet finanziert. Die direkte und indirekte Kooperation mit Islamisten stärkt diese politisch und finanziell und fördert die Spaltung Syriens.

Die humanitäre Hilfe in Idlib soll die Inlandsvertriebenen, die seit Jahren ohne Perspektive unter unverändert prekären Bedingungen in Lagern leben, davon abhalten, über die Türkei in Richtung Europa zu fliehen. Die Menschen sollen »resilient«, widerstandsfähig, gemacht werden. Sie sollen es als Aufgabe begreifen, mit den schwierigen Bedingungen zu leben und werden dafür mit Hilfe »belohnt«.

Kinder und Jugendliche werden in ausländisch finanzierten Schul- und Ausbildungsprojekten mit nicht-syrischen Curricula unterrichtet und von ihrem Heimatland Syrien, seiner Geschichte und Gesellschaft entfremdet. Die Rückkehr dieser Menschen in ihre Heimatorte in anderen Teilen Syriens ist nach dem Willen der Geldgeber der grenzüberschreitenden Hilfslieferungen nicht vorgesehen.