Ausland27. Mai 2023

Gebt nie auf!

Gespräch mit Dr. Salman Abu Sitta über die Geschichte Palästinas und das Recht der Palästinenser, in ihre Heimat zurückzukehren

von Karin Leukefeld

Dr. Salman Abu Sitta wurde 1938 im Süden Palästinas geboren. Er war 10 Jahre alt, als die Nakba begann, die Katastrophe. 65 Massaker wurden von jüdischen Milizen und Zionisten verübt, Hunderttausende Palästinenser wurden aus ihrer Heimat vertrieben Auch Salman Abu Sitta und seine Familie wurde vertrieben, in seiner Heimat wurde der Staat Israel gegründet. Unsere Korrespondentin Karin Leukefeld traf Salman Abu Sitta in Beirut zu einem Interview.

Dr. Salman, Sie haben hier auf einer Konferenz des »Zentrums für die Studien der arabischen Einheit« über die Geschichte Palästinas gesprochen. Die Geschichte Palästinas ist Ihr Lebensmotto. Warum?

Ich bin Palästinenser und wurde in Al Ma’een Abu Sitta geboren, das liegt im Distrikt von Beer’Sheba, nur acht Kilometer vom Mittelmeer entfernt. Von meinem Land ist es nur einen Kilometer bis zum Stacheldrahtzaun, den man »Armistice Linie« nennt, die Waffenstillstandslinie von 1949. Anders gesagt, würden die Israelis sich drei, vier Kilometer zurückziehen, wäre unser Land, das ganze Land meiner Familie befreit.

Unser Land umfaßt ein Gebiet von 60.000 Dönüm, das ist eine Fläche von 6 mal 8 Kilometern. Dort wurde ich geboren, dort lebte meine Familie seit mindestens 250 Jahren. Wir haben Dokumente aus der Osmanischen Zeit, in denen steht, daß mein Ur-Ur-Ur-Großvater in seinem Haus eine Ratsversammlung abhielt, auf der alle Führungspersönlichkeiten der Region ein Abkommen unterzeichneten. Mein Ur-Ur-Ur-Großvater war ein Scheich, eine bekannte Person, vergleichbar einem Bürgermeister. Diese Dokumente stammen aus der Zeit um 1840 und – ironischerweise – wurde in dieser Zeit (Arthur) Balfour in England geboren. Balfour, der 1917 ein Land, das ihm nicht gehörte, Leuten übergab, die kein Recht darauf hatten. Während die rechtmäßigen Eigentümer dieses Landes nicht anwesend waren. Seitdem erleben wir die Zerstörung unseres Landes, unseres Volkes und die Entvölkerung unserer Heimat Palästina.

Von den 14 Millionen Palästinensern, die es heute gibt, sind zwei Drittel Flüchtlinge. Sie können ihre Heimat sehen und können sie doch nicht erreichen. Obwohl das Internationale Recht hinter ihnen steht. 135 Mal hat die UNO die Resolution Nr. 194 beschlossen und bekräftigt, mit der die Rückkehr der Flüchtlinge gefordert wird.

Das erste Mal stimmte die Generalversammlung der Organisation der Vereinten Nationen im Dezember 1948 für die Resolution 194. Wann mußten Sie Ihre Heimat verlassen?

Ich war 10 Jahre alt, als die Israelis angriffen. Sie hießen nicht Israelis, sie waren jüdische Einwanderer aus Europa.

Ich kannte diese Leute nicht, ich wußte auch nicht, warum sie uns angriffen. Sie kamen aus verschiedenen europäischen Ländern. Aus Rußland, Polen, Ukraine und aus anderen Ländern. Sie sprachen fremde Sprachen, wir konnten sie nicht verstehen. Als sie kamen trugen sie Waffen und sie waren ausgebildet. Und sie hatten große politische und finanzielle Unterstützung. Sie verübten Massaker, in Deir Yassin und in den Dörfern um Jaffa.

Als die ersten Massaker im Norden bekannt wurden, war ich in einem Internat in Beer’Sheba, etwa 40 Kilometer von meinem Elternhaus entfernt. Eines Tages, es war im April 1948, kam der Direktor unseres Internats zu uns Jungen und sagte: »Ihr müßt zu Euren Familien zurückgehen. Ich kann Euch nicht beschützen. Die Juden greifen an, sie töten Menschen in Deir Yassin und in Jaffa, geht nach Hause.«

Wir Kinder mußten den langen Heimweg laufen. Ich trug meine Tasche mit Kleidung und mit meinen Schulbüchern auf dem Rücken. Ich mußte die Tasche schließlich wegwerfen, weil ich sie nicht mehr tragen konnte. Lange Zeit war ich tief traurig darüber, ich hatte doch meinen Eltern zeigen wollen, was für ein guter Schüler ich war.

Am 14. Mai 1948 griffen die jüdischen Einwanderer uns direkt auf unserem Grund und Boden an. Sie kamen in 24 gepanzerten Fahrzeugen und wir hatten nur 10 oder 15 Gewehre. Sie zerstörten alles. Sie sprengten unsere Schule in die Luft, die mein Vater 1920 gebaut hatte. Wir hatten auch einen Bajara, einen Brunnen mit einer Pumpe. Sie sprengten alles in die Luft. Auch unsere Mühle, mit der wir unseren Weizen mahlen konnten.

Die Frauen versteckten sich mit uns Kindern in einer nahegelegenen Schlucht. In den frühen Morgenstunden zogen die Angreifer weiter, aber erst als die Sonne hoch am Himmel stand, trauten wir uns zurück ins Dorf. Wir sahen die schwelenden Überreste der Häuser, die Trümmer, die Toten. Es war verheerend, ich habe es nie vergessen.

Sie hatten Glück, Ihr Vater schickte Sie zu ihren Brüdern nach Kairo, wo Sie studieren konnten. Sie wurden ein Ingenieur. Und doch gelten Sie heute als der Kartograph Ihrer palästinensischen Heimat. Wie kam es dazu?

Als ich mein zerstörtes Elternhaus verließ, dachte ich nie, daß ich nicht zurückkehren und wieder dort leben würde. Es wurde die Aufgabe meines Lebens. Um den Menschen zu beschreiben, wo meine Heimat ist, wurde ich ein Geograph. Um ihnen zu sagen, daß ich dort war, wurde ich Historiker. Um die Welt über meine Heimat zu informieren, wurde ich ein Mann für Öffentlichkeitsarbeit. Um der Welt zu sagen, daß dieses Land mir rechtmäßig gehört, wurde ich Anwalt für internationales Recht.

Wenn man von etwas überzeugt ist, wenn jemand deine Heimat nimmt, dann tust du alles, um sie zurückzubekommen. Du rufst, schreist, du nimmst auch ein Gewehr …

Was ist aus Ihrem Land geworden?

Ich habe Karten gezeichnet wie es war und dann habe ich mit Hilfe von Satellitenaufnahmen eine moderne Karte gezeichnet die zeigt, wie es heute aussieht. Es gibt dort heute vier Kibbuzim: Nirim, Ein Hashlosha, Nir Oz, Mazen. Im Jahr 2000 gründete ich die Palestine Land Society in London, die Gesellschaft für das Land Palästina. Jetzt haben wir an der Amerikanischen Universität von Beirut (AUB) das Studienzentrum Land Palästina gegründet. Es enthält 10.000 Akten, Dateien, und Dokumente, die ich überall in der Welt gesammelt habe. Sie dienen der Forschung.

Meinen Sie, daß die Zukunft Palästinas in einer Universität liegt, in einem Museum, in einem Studienarchiv?

Ich habe keinerlei Zweifel – wie die Sonne jeden Morgen neu aufgeht, so werden wir zurückkehren. Was uns widerfahren ist, ist eine beispiellose Abweichung der Geschichte Palästinas seit 4.000 Jahren. Es gibt nichts dergleichen. Armeen kamen und gingen, neue Herrscher kamen und gingen. Menschen nahmen neue Religionen an – aber nicht einmal in unserer 4.000 Jahre alten Geschichte ist es geschehen, daß ein Teil dieses Landes herausgeschnitten wurde! Daß die dort lebenden Menschen verjagt werden.

In meinen »Palästina Atlas« habe ich 55.000 Namen dokumentiert, die es innerhalb Palästinas gibt. Namen von Dörfern, Städten, Hügeln, Flüssen, Orten. Und Ben Gurion, der Mann, der am 14. Mai 1948 die Unabhängigkeitserklärung Israels verkündete und dessen erster Regierungschef wurde, bildete ein Komitee, dessen Aufgabe es war, neue Namen zu finden. Schließlich lieferten sie 6.800 Namen erfundene Namen: Berg Herzl, Ben Gurion Straße usw.

Eine Farce. Man löscht die Geschichte eines Volkes und seine Geographie aus. Man behauptet, dieses Volk habe es nie gegeben. Und dann legt man neue Geschichtsbücher auf und sagt in den Schulen, es habe nichts gegeben seit dem Jahr Null, »seit Jesu Geburt bis Balfour 1917«?! Nur leere Seiten? Das ist, als würde man eine Pyramide auf den Kopf stellen.

Der Staat Israel, der 1948 entstand, hat kürzlich seinen 75. Geburtstag gefeiert. Ursula von der Leyen, die Präsidentin der EU-Kommission gratulierte per Video, ohne mit einer Silbe die Palästinenser zu erwähnen. Sie haben sich mit einem offenen Brief an Frau von der Leyen gewandt. Warum?

Ich habe Ihr geschrieben, weil sie die EU repräsentiert und auch, weil sie eine Deutsche ist. Ich wollte sie nicht nur auf ihre sachlichen Fehler in ihrer Erklärung aufmerksam machen, ich wollte sie daran erinnern, daß Deutschland uns gegenüber Verantwortung hat. Deutschland versucht seine Gräueltaten gegen die eigenen jüdischen Bürger mit dem Blut der Palästinenser zu kompensieren. Das ist ein doppeltes Verbrechen und es hält seit 75 Jahren an. Sie sollte das wissen.

Es gibt da noch etwas, was ich in dem Brief hätte erwähnen sollen. Ich tat es nicht, weil ich mich kurzfassen wollte. Die deutschen Reparationszahlungen 1953 sollten an Juden bezahlt werden, als Wiedergutmachung für die Gräueltaten während des 2. Weltkrieges. Sie hätten an die deutschen Juden bezahlt werden müssen, die Bürger des Landes, das die Verbrechen beging. Stattdessen verübten sie ein großes Verbrechen, indem sie diese Reparationszahlungen an Israel bezahlten. Warum hilft Deutschland einem anderen Land, das Verbrechen gegen ein anderes Volk begeht?

Sie sprechen auf Konferenzen, halten Vorträge, Sie haben Beziehungen zur Amerikanischen Universität in Beirut aufgebaut. Was raten Sie jungen Leuten?

Vor allem richtet sich mein Rat an die jungen Palästinenser. Gebt nie Euer Recht auf, in Eurem eigenen Land geboren zu werden. Gebt nie auf! Die Geschichte steht hinter Euch, die Geographie steht hinter Euch. Die Logik steht hinter Euch, das Recht ist hinter Euch. Gebt nie auf. Bis heute sind nur die Gewehre gegen Euch, aber Gewalt kann kein Recht schaffen. Solange es die Gewalt gibt, wird das Unrecht siegen.

Aber die Zeit wird kommen, wenn die Gewalt nachläßt, das wissen wir aus der Geschichte. Also gebt nie Euer Recht auf, in Eure Heimat zurückzukehren. Jeder Satz im Internationalen Recht unterstützt Euch.