Leitartikel23. Dezember 2022

WM durch die europäische Brille

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Am vergangenen Sonntag endete die 22. Fußball-Weltmeisterschaft (»FIFA World Cup«) in Katar. Ein Turnier, welches ohne Zweifel in die Geschichte eingehen wird, wurden doch, obschon die Laufrichtung seit Jahren dies andeutete, die wahren Interessen der FIFA und ihres Präsidenten nie zuvor derart schamlos offen zur Schau gestellt, wie in diesem Jahr. Zum Schluß gab es noch einmal den ganz großen Auftritt der »Macher«: FIFA-Boß Gianni Infantino und der Emir von Katar wollten offensichtlich Sekunde um Sekunde herausschinden, die sie bei der Übergabe des Pokals an Argentiniens Kapitän Lionel Messi nach dem gewonnenen Finale gegen Frankreich medienwirksam ergattern konnten. Sie sonnten sich in ihrem Erfolg, der trotz aller Kritik tatsächlich einer war.

Viel Empörung gab es, insbesondere in Europa und in Deutschland im speziellen über die Menschenrechtslage im Austragungsland. Zwar waren die Zustände nicht erst bei Vergabe der WM im Jahr 2010 bekannt, doch formierte sich ein wirklicher Widerstand unter Fans erst in den 2-3 Jahren vor dem Turnier. In Deutschland verkörperte die Bewegung »Boycott Qatar« das Gesicht des Protests. Es wurde aufgerufen, die Spiele nicht zu schauen und gleichzeitig unterstützten die Fanszenen der Klubs beispielsweise zu tausenden Frauen- und Jugendmannschaften ihrer Klubs in der WM-Winterpause.

Die Freude war bei den Boykott-Anhängern in Deutschland groß über die niedrigen Einschaltquoten des dortigen Fernsehens, was als Erfolg vereinnahmt wurde. Doch sind diese niedrigen Quoten wirklich voll umfänglich dem Boykott geschuldet? Und wie viele Fans werden die Frauen- und Jugendmannschaften dereinst haben, wenn die Saison der Männer wieder startet? Wird es bei den während des Turniers vor der FIFA und Katar eingeknickten Verbänden in Europa ein Umdenken in Bezug auf die Vergabe großer Turniere geben?

Realistisch betrachtet hat es außerhalb Europas kaum jemanden gestört, was in Katar geschieht: In Südamerika, Afrika und Asien, sogar in Teilen Europas, wie in Frankreich, sorgte die umstrittene WM für Rekord-Einschaltquoten. Insbesondere der Empfang für die Argentinier in Buenos Aires war rekordverdächtig: Millionen Menschen waren auf den Beinen, hunderttausende säumten die Straßen der Hauptstadt des leidgeprüften Landes, um ihre Stars zu sehen. Wie hätte man diesen Menschen erklären können, daß sie eigentlich diese WM hätten boykottieren sollen? Die mitgefilmten Versuche von Personen, die versuchten, mit Regenbogenshirts ins Stadion zu kommen waren genau wie die unsägliche Binde eine Vereinnahmung der Farben der LGBT-Bewegung mit Fremdschämpotential und vermutlich ein Bärendienst.

Bei aller berechtigter Kritik an der FIFA und ihrem Präsidenten wird es im kommenden Frühling eine rauschende Wiederwahl des Oberhauptes mit katarischem Wohnsitz geben, da die europäischen Verbände schlicht keinen Einfluß haben, dies zu ändern. Der Weg des größten Fußballfests der Welt ist also vermutlich vorgezeichnet: Völlige Kommerzialisierung bis zum Überdruß, wobei es immer häufiger zu »Sportswashing« kommen wird. Die vergangenen Jahre waren Sportarten-übergreifend wohl erst der Anfang einer Entwicklung, die deutlich zeigt, daß Europa nicht mehr am Hebel sitzt. Der wirtschaftliche Kniefall Deutschlands für Gas aus Katar war fußballfremd, doch sinnbildlich.

Konsequenzen aus der Gesamtentwicklung der großen Fußballturniere müssen jetzt ernsthaft diskutiert werden. Nicht, damit der Weltfußball wieder europäisch beherrscht wird, sondern damit er seine Seele nicht vollends verliert.