Der Erdgaspoker der EU
Die Wahrscheinlichkeit eines baldigen Stopps der russischen Erdgaslieferungen in die EU steigt. Industrievertreter fordern, zuerst bei Privathaushalten zu sparen. Streit um die Zahlungsmodalitäten
Die Chancen sinken, daß es gelingt, den Streit um die Bezahlung für russisches Erdgas zu lösen. Moskau besteht auf der Zahlung in Rubel, da die Guthaben in US-Dollar oder in Euro, die es bei einer Zahlung in diesen Währungen anhäuft, prinzipiell dem Zugriff westlicher Sanktionen ausgesetzt sind. Hinzu kommt, daß die systematische Nutzung des Rubels in der Erdgasbranche die russische Währung stärkt sowie zugleich die dominante Rolle des US-Dollars ein wenig schwächt. Rußland wickelt bereits einen wachsenden Teil seines Handels mit China in lokaler Währung ab und arbeitet gegenwärtig daran, auch seinen Handel mit Indien entsprechend anzupassen.
Im Grundsatz sind fast alle EU-Staaten bereit, sich auf die Umstellung der Zahlungsmodalitäten einzulassen, sofern sie nur den Sanktionen, die Brüssel gegen Rußland verhängt hat, nicht zuwiderlaufen. Nur Polen und Bulgarien weigern sich kategorisch, Anpassungen vorzunehmen. Rußland hat deshalb alle Erdgaslieferungen an die beiden Länder in der vergangenen Woche offiziell gestoppt. Allerdings hatten beide Länder ohnehin nur noch Lieferverträge bis Jahresende; Polen will zusätzliches Erdgas ab Herbst durch eine neue Pipeline aus Norwegen erhalten, Bulgarien durch eine neue Röhre aus Griechenland.
Langfristige Verpflichtungen
Ungewiß ist allerdings, ob die geplanten Zahlungsmodalitäten mit den EU-Sanktionen in Einklang zu bringen sind. Weil die EU nicht bereit war, eine direkte Zahlung in Rubel zuzulassen, hatte Rußland ein Zweikontenmodell vorgeschlagen; gezahlt wird demnach in US-Dollar oder in Euro auf ein Konto der Gazprombank, wo der Betrag in Rubel getauscht und auf ein zweites Konto, ein Rubelkonto, überwiesen wird. Gälte die Zahlung nach der ersten Überweisung als abgeschlossen, dann bestünde aus Sicht der EU-Kommission kein Problem; allerdings befänden sich dann wieder Guthaben in US-Dollar und in Euro bei der Gazprombank.
Besteht Moskau also darauf – und darauf deutet aktuell alles hin –, daß die Zahlung erst nach dem Umtausch in Rubel und der Überweisung auf das zweite Konto abgeschlossen ist, dann verstößt dies nach einer »Klarstellung« der EU-Kommission vom vergangenen Donnerstag gegen die Sanktionen. Grund ist, daß der Umtausch in Rubel mit Hilfe der russischen Zentralbank abgewickelt wird, gegen die die EU Sanktionen in Kraft gesetzt hat.
Die Branche ist derzeit verzweifelt auf der Suche nach einer Lösung. Für Uniper, den größten deutschen Gasimporteur, der 60 Prozent seines Erdgases aus Rußland bezieht, wird die nächste Zahlung Ende Mai fällig; bis dahin muß alles geklärt sein.
Die Debatte, was zu befürchten steht, sollten die Erdgaslieferungen mangels Einigung über die Zahlungsmodalitäten eingestellt werden, dauert an. Äußerungen des deutschen Wirtschaftsministers Robert Habeck, Deutschland habe den Anteil russischen Erdgases am gesamten Gasimport im laufenden Jahr bereits von rund 55 Prozent auf 35 Prozent abgesenkt, werden in der Branche offen bezweifelt – denn wie berichtet wird, ist die Durchleitung russischen Erdgases durch die einschlägigen Pipelines nicht geringer geworden; das geht aus offiziellen Angaben der Bundesnetzagentur hervor.
Davon abgesehen ist nicht ersichtlich, wie die Erdgasimporteure eine drastische Umstellung in kurzer Zeit finanzieren sollen. Ein großer Teil der deutschen Importverträge ist recht langfristig angelegt; eine hohe Zahl an Verträgen läuft bis Ende des Jahrzehnts. Uniper ist zum Teil sogar bis 2036 vertraglich an Gazprom gebunden. Dabei sehen die Verträge vor, daß auch bei Nichtabnahme des zugesicherten Erdgases eine signifikante Mindestsumme zu zahlen ist – je nach Übereinkunft Berichten zufolge bis zu 80 Prozent des Gesamtbetrags. Faktisch liefe das, sollte russisches Gas durch alternative Lieferungen ersetzt werden, auf eine Doppelzahlung hinaus – dies bei ohnehin außerordentlich hohen Erdgaspreisen.
18 Prozent einsparen
Davon unabhängig ist klar, daß ein Totalausfall russischer Erdgaslieferungen kurz- und wohl auch mittelfristig nicht durch alternative Lieferanten aufgefangen werden kann. Eine aktuelle Untersuchung dazu hat das Kölner Energiewirtschaftliche Institut (EWI) vorgelegt. Die Autoren gehen von mehreren optimistischen Annahmen aus. So berechnen sie ein, daß Norwegen die Herstellung von Flüssiggas (LNG, Liquefied Natural Gas) steigern kann, daß es gelingt, ein neues LNG-Terminal bis Oktober im niederländischen Eemshaven sowie bereits zu Jahresende auch im deutschen Wilhelmshaven in Betrieb zu nehmen, und daß der kommende Winter nur mäßige Kälte bringt.
Sollten die Speichervorräte wenigstens auf dem aktuellen Niveau gehalten werden – 32 Prozent im EU-Durchschnitt –, dann müsse man binnen eines Jahres rund 18 Prozent des eigentlich prognostizierten Erdgasverbrauchs einsparen, schreibt das EWI. Wolle man den Speicherfüllstand erreichen, den die EU laut aktuellen Planungen anvisiert – 80 Prozent zum 1. November –, dann müsse man mit den Einsparungen schon in Kürze beginnen. Die Einsparmenge von 18 Prozent ist etwas mehr als der halbe Gesamtkonsum der deutschen Industrie. Wird der Winter überdurchschnittlich kalt, dann steigt die Privatnachfrage zu Heizzwecken erheblich an und erhöht den Gesamtkonsum.
»Private zuerst«
Gekürzt werden müßte laut aktueller Beschlußlage eigentlich bei der Industrie; private Haushalte und Einrichtungen wie Krankenhäuser genießen besonderen gesetzlichen Schutz. In der deutschen Wirtschaft werden Notfallplanungen schon seit Wochen mit Hochdruck vorangetrieben; Einbrüche wären bei einem Erdgaslieferstopp dennoch nicht zu vermeiden. So heißt es etwa aus der Chemieindustrie, die allein beinahe 15 Prozent des Erdgases verbraucht, man könne nicht bei der Nutzung von Erdgas als Rohstoff, wohl aber etwas bei der Nutzung als Energieträger etwas einsparen – allerdings nur im »geringen einstelligen Prozentbereich«.
Man arbeite an Plänen dafür, Teilanlagen stillzulegen, um wenigstens den Kernbetrieb nicht zu gefährden. Ob es gelinge, die dann wegfallenden Produkte durch Importe zu ersetzen, sei allerdings wegen der angespannten Lage auf den Weltmärkten ungewiß. Inzwischen werden erste Forderungen laut, die Erdgasversorgung nicht zuerst bei der Industrie, sondern bei Privathaushalten vorzunehmen: Die Politik müsse »sehr ernsthaft darüber nachdenken«, fordert Karl-Ludwig Kley, Aufsichtsratschef des Energieversorgers Eon, ob sie künftig »die Reihenfolge nicht umdreht und erst bei Privaten abschaltet und dann bei der Industrie«.