Ausland23. September 2022

Vorratsdatenspeicherung eingeschränkt

Frankreich will künftig weniger und kürzer speichern

von Ralf Klingsieck, Paris

Dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 20. September zur französischen und deutschen Gesetzgebung in Sachen Vorratsdatenspeicherung sah man in Paris gelassen entgegen. Im April, als das EuGH ursprünglich seinen Spruch fällen wollte, der dann noch einmal um fünf Monate verschoben wurde, sah das noch anders aus. Da war der Vorwurf des Gerichts in Luxemburg, Frankreich setze auf Datensammlung in großem Umfang und über einen relativ langen Zeitraum, durchaus berechtigt. Darum hatte ja der EuGH-Generalanwalt Ende 2021 diese Praxis als »unionsrechtswidrig« eingestuft. Eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung zur Bekämpfung schwerer Kriminalität sei nicht mit EU-Recht vereinbar, hieß es seinerzeit, aber es gebe durchaus Spielraum für konkret definierte Ausnahmen. Die EU-Mitgliedsländer seien gehalten, »Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung so auszugestalten, daß Daten rechtssicher, anlaßbezogen und durch richterlichen Beschluß gespeichert werden.«

Seitdem hat sich die Situation in Frankreich geändert. Zwar kann sich die Regierung immer noch nicht dazu durchringen, das heiße Eisen anzupacken und durch ein klar formuliertes Gesetz Rechtssicherheit zu schaffen. Doch gewissermaßen stellvertretend für den Staat trat der Kassationsgerichtshof, der als höchste Instanz Urteile der untergeordneten Gerichte auf Rechtsfehler zu prüfen hat, die »Flucht nach vorn« an. Als am 18. Juli diesen Jahres der neue Erste Präsident des Kassationsgerichtshofs, Christophe Soulard, mit einer feierlichen Zeremonie in sein Amt eingeführt wurde, betonte er in seiner Antrittsrede, daß »der nationale Richter das Gesetz außer Kraft setzen muß, wenn es gegen EU-Normen verstößt«.

Solche starken Worte konnte er mit ruhigem Gewissen gebrauchen, denn nur Tage zuvor hatte der Kassationsgerichtshof vier aktuelle Entscheidungen zur Speicherung von Verbindungsdaten bei strafrechtlichen Ermittlungen und dem Zugang zu ihnen gefällt, die in die Richtung gehen, die vom Europäischen Gerichtshof gewiesen wird. Der EuGH war und ist der Ansicht, daß die Vorratsspeicherung von Verbindungsdaten – in Frankreich sind das die »Fadettes« genannten Listen mit Verkehrs- und Standortdaten – das durch die EU-Grundrechtecharta geschützte Recht auf Privatsphäre verletzt.

Diesen Standpunkt vertreten seit Jahren auch die französische Liga für Menschenrechte und andere Organisationen, die regelmäßig gegen die »ungehemmte Sammelwut von Polizei, Justiz und Geheimdiensten« protestieren und vor einer »Aushöhlung des Rechtsstaates« warnen. Wie wenig sachgemäß diese Datensammelpraxis ist, so argumentieren die Kritiker, zeige sich schon daran, daß Frankreich, wo mehr Daten erfaßt und gespeichert werden als sonst in der EU, trotzdem die meisten Terrorakte verübt werden.

Die Diskrepanz zwischen französischem und EU-Recht wurde besonders deutlich, als der Europäische Gerichtshof im Oktober 2020 in einer aufsehenerregenden Entscheidung die Bedingungen für die Vorratsspeicherung eingeschränkt hat. Insbesondere wurde schon damals klargestellt, daß keine nationalen Regelungen den Betreibern elektronischer Kommunikationssysteme, Internetzugangsanbietern und Hosting-Providern eine undifferenzierte und allgemeine Speicherung von Verbindungsdaten vorschreiben können. Zugleich wurde der Rahmen für ihre mögliche Speicherung und die Formen ihrer Verarbeitung je nach dem verfolgten Ziel abgesteckt.

Gestützt auf diese für die EU geltende Entscheidung haben in Frankreich Kriminelle, die wegen schwerer Straftaten wie Mord oder Drogenhandel verfolgt wurden, die Annullierung der Beschlagnahme ihrer Verbindungsdaten mit der Begründung beantragt, daß die Speicherung unrechtmäßig sei, da sie nicht mit dem EU-Recht vereinbar ist. Zum damaligen Zeitpunkt schrieb das französische Gesetz nämlich eine allgemeine Speicherung für die Dauer eines Jahres zur Aufklärung von Straftaten vor, ohne zwischen den Gründen für die Speicherung zu unterscheiden.

Das legen allerdings nicht alle Rechtsinstanzen auf gleiche Weise aus. So hat im Mai vergangenen Jahres der Staatsrat, das oberste Verwaltungsgericht, diese einjährige Speicherdauer bestätigt, auch wenn dabei eingeschränkt wurde, daß dies vor allem Fälle von Terrorismus und Bandenkriminalität betreffe. Doch dieses Urteil wurde im Februar diesen Jahres vom Verfassungsrat als unvereinbar mit dem Grundgesetz aufgehoben. Die »Weisen« urteilten, daß »die von den Betreibern gespeicherten Verbindungsdaten aufgrund ihrer Art, ihrer Vielfalt und der Verarbeitung, der sie unterzogen werden können, zahlreiche und genaue Informationen über die Nutzer sowie gegebenenfalls über Dritte liefern«. Die Wächter über die Verfassung schlußfolgern: »Die allgemeine und undifferenzierte Speicherung von Verbindungsdaten greift unverhältnismäßig stark in das Recht auf Achtung des Privatlebens ein.«

So war es nur konsequent, daß der Kassationsgerichtshof am 12. Juli die Sichtweise der EU übernahm und bestätigte, daß die früher im französischen Recht vorgesehene und vage mit dem »Schutz der grundlegenden Interessen der Nation« und der »Terrorismusbekämpfung« begründete allgemeine Vorratsspeicherung von Daten gegen EU-Recht verstößt. Anschließend präzisierte er die Fälle, in denen diese Speicherung weiterhin zulässig ist, sowie deren Modalitäten. Dazu gehören insbesondere Fälle von »Bedrohung der nationalen Sicherheit«. Übereinstimmend mit dem EuGH stellt der französische Kassationsgerichtshof klar, daß »nur eine Justizbehörde oder eine unabhängige Verwaltungseinheit den Zugriff auf Verbindungsdaten genehmigen kann«.