Ausland28. März 2024

Ein »karibischer Störtebeker«?

Bandenchef mit klassenkämpferischer Rhetorik in Haiti gegen eine mögliche USA-Intervention

von Volker Hermsdorf

Die Lage in Haiti spitzt sich zu. Während der nicht durch Wahlen legitimierte USA-freundliche Ex-Premierminister Ariel Henry in Puerto Rico festsitzt, lehnt die Mehrheit der Bevölkerung einen auf Initiative der USA-Regierung geplanten »Übergangspräsidentschaftsrat« ab. Da zugleich in Kenia Vorbehalte gegen die Entsendung einer Eingreiftruppe unter Führung des Landes geäußert werden, erwägen die USA, eigene Truppen in den Karibikstaat zu schicken, berichtete das Onlineportal »Gazette Haiti« am Mittwoch vergangener Woche.

Damit würde die Situation allerdings kaum befriedet, im Gegenteil. Den Invasoren würden sich »wütende Menschen in den Ghettos und Arbeitervierteln« entgegenstellen, »die nichts zu verlieren haben und bereit sind, für ihr Land zu kämpfen und zu sterben«, warnt Jimmy »Barbecue« Chérizier. Der ehemalige Elitepolizist wird von westlichen Medien als einer der Hauptschuldigen für die Gewalt in Haiti dargestellt, bezeichnet sich selbst aber als »Revolutionär«.

Die schillernde Persönlichkeit und der Erfolg Chériziers sind Produkte eines Landes, das nach Ansicht der haitianischen Wissenschaftlerin Jemima Pierre seit 20 Jahren unter Besatzung steht und zum »Labor des Neokolonialismus« wurde. Im Jahr seines zweihundertjährigen Bestehens als unabhängiger Staat hätten ausländische Mächte 2004 Haitis Unabhängigkeit beseitigt, schreibt sie in einem am 19. März in der Zeitschrift »Haïti Liberté« veröffentlichten Beitrag.

Ein Jahr zuvor hatten die USA, Frankreich und Kanada beschlossen, die gewählte Regierung zu stürzen. »Am 29. Februar 2004 wurde Präsident Jean-Bertrand Aristide von US Marines entführt und auf eine Militärbasis in Afrika gebracht. Am selben Tag verkündete George W. Bush, Streitkräfte nach Haiti zu schicken, und am Abend waren 2.000 US-amerikanische, französische und kanadische Soldaten im Einsatz.«

Seitdem sei das Land unter verschiedenen USA-freundlichen Marionettenregierungen immer tiefer im Chaos versunken, so die Professorin der Universität von British Columbia. Eine dieser Marionetten war der von den USA eingesetzte Premierminister Henry, der auf Druck Washingtons und des IWF Treibstoffsubventionen gestrichen und das haitianische Volk noch tiefer in die Armut gestürzt hat. Zunehmende Not und zu Hunderttausenden aus den USA eingeführte Waffen begünstigten die Bildung schwerbewaffneter Gangs, die schließlich die Kontrolle über die Hauptstadt Port-au-Prince und andere Teile des Landes ausübten.

Als einer der mächtigsten Bandenchefs organisierte Chérizier im Herbst 2022 eine bewaffnete Blockade eines Tanklagers, die zu einer schweren Treibstoffknappheit führte. Das Ziel der Aktion, den Rücktritt von Henry, erreichte er damit allerdings nicht. Während Chériziers Gang Gräueltaten vorgeworfen werden, sieht er sich selbst als eine Art »karibischer Klaus Störtebeker«, der die Armen und Bedürftigen unterstützt.

Der bekennende Freimaurer bezieht sich auf den haitianischen Revolutionär Jean-Jacques Dessalines (1758–1806), der die ehemalige französische Kolonie 1804 in die Unabhängigkeit führte. Er sei kein Marxist, sagte Chérizier dem US-amerikanischen Journalisten Jon Lee Anderson, aber er bewundere Che Guevara und Fidel Castro: »Ich mag sie nicht, weil sie Kommunisten waren, sondern Menschen, die sahen, daß die Bedingungen für die Mehrheit der Bevölkerung nicht gut sind und dafür kämpften, das zu ändern.«

Nachdem der Rücktritt von Henry erreicht worden sei, »wird unser Kampf in eine neue Phase eintreten, um das ganze System zu stürzen, das aus fünf Prozent der Menschen besteht, die 95 Prozent des Reichtums dieses Landes kontrollieren«, kündigte Chérizier gegenüber »Al-Dschasira« an. Dafür, so »Haïti Liberté«, würde er eine mögliche Koalition des linkssozialdemokratischen Oppositionspolitikers Jean-Charles Moïse mit dem eher rechten Ex-Putschisten Guy Philippe unterstützen. Beide Politiker lehnen den USA-gestützten »Präsidentenrat« und eine Militärintervention ab.

»Wenn sie versuchen, die Macht mit Unterstützung ausländischer Truppen zu übernehmen, werden wir bis zum letzten Tropfen unseres dessalinischen Blutes kämpfen«, gab Chérizier sich gegenüber »Haïti Liberté« kämpferisch. An seiner Wandlung zum »Revolutionär« gibt es indes auch Zweifel. »Vom Che hat er nur die Baskenmütze«, bemerkte das argentinische Onlineportal »Resumen Latino­americano« skeptisch.