Ausland10. August 2024

»Fürs Vaterland!«

Die Sozialdemokratie und der Erste Weltkrieg

von Hermann Kopp

Der Beginn des Ersten Weltkriegs wird in Deutschland meist auf den 4. August 1914 datiert. Am Vormittag dieses Tages erklärte der Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, das Deutsche Reich stehe »in einem erzwungenen Kriege mit Rußland und Frankreich«; am Nachmittag beschloß der Reichstag die Bewilligung von Kriegskrediten (heute hieße das »Sondervermögen«) in Höhe von 5 Milliarden Mark.

Am frühen Morgen dieses Tages waren deutsche Truppen in das neutrale Belgien eingefallen, obwohl damit der Kriegseintritt Britanniens fast unvermeidlich wurde. Bereits am 2. August war kampflos das kleine, ebenfalls neutrale Luxemburg besetzt worden.

Alle Kriegsdienstfähigen sollten, um einen Stellungskrieg zu vermeiden, rasch mobilisiert werden. Zur Verpflegung der deutschen Truppen war vorgesehen, die besetzten Gebiete auszuplündern.

Generalstabschef Helmuth Johannes Ludwig von Moltke rechnete mit der Niederwerfung Frankreichs innerhalb von sechs Wochen. In dieser Zeit sollte das verbündete Österreich-Ungarn dem deutschen Imperialismus den Rücken im Osten freihalten. Nach der französischen Kapitulation sollten dann die im Westen siegreichen Truppen den Kampf gegen Rußland aufnehmen.

»Im Felde unbesiegte« Kriegshelden

Soweit die Blitzkriegskonzeption, die zu Beginn des ersten Weltkriegs den Aufmarschanweisungen für das Feldheer zugrunde lag und zunächst auch zu einem raschen Vormarsch führte. Sie scheiterte aber schon nach wenigen Wochen. Am 6. September begann auf der 230 Kilometer langen Front zwischen Verdun und Paris die französisch-britische Gegenoffensive – die britische Kriegserklärung an das Deutsche Reich war, wie zu erwarten, noch am 4. August erfolgt. Die Marneschlacht vom 5. bis 12. September 1914 leitete über in die Zeit des Stellungskriegs. Millionen von Soldaten beider Seiten fielen ihm in den nächsten vier Jahren zum Opfer.

Etwa zeitgleich erlitt das österreichisch-ungarische Heer eine schwere Niederlage in Galizien. Von diesen strategischen Niederlagen sollten sich die Mittelmächte nicht wieder erholen – trotz gelegentlicher Teilerfolge. Zu diesen gehörten schon sehr früh die Kämpfe an den masurischen Seen vom 26. bis 31. August 1914, die auf Vorschlag von General Erich Ludendorff als Revanche für die Niederlage des Deutschen Ritterordens bei Tannenberg 1410 auf den Namen »Schlacht von Tannenberg« getauft wurden. Der Sieg von »Tannenberg« trug wesentlich zum Ansehen des faschistischen Demagogen Ludendorff selbst und des späteren Chefs der Obersten Heeresleitung Paul von Hindenburg bei, der den beiden Herren dann in der Weimarer Zeit ermöglichte, ihre verhängnisvolle reaktionäre Rolle als »im Felde unbesiegte« Kriegshelden zu spielen.

Bewilligung der Kriegskredite

Die Zustimmung des Reichstages zu den Kriegskrediten erfolgte einstimmig, also mit den Stimmen sämtlicher Mitglieder der sozialdemokratischen Fraktion. Noch am Vortag, bei der Beratung in der Fraktion, hatten vermutlich 14 der anwesenden Genossen gegen die Kreditbewilligung gestimmt, 78 dafür; einige der 111 Fraktionsmitglieder sollen sich enthalten haben. Kautskys Vorschlag, die Kriegskreditbewilligung an die Zusicherung der Regierung zu knüpfen, keine Eroberungen zu wollen, wurde allgemein abgelehnt.

Karl Liebknechts Bemühen, die Gegner der Kreditbewilligung zu einer vom Fraktionsbeschluß abweichenden Abstimmung zu bewegen, schlug fehl. So verlas der Parteivorsitzende Hugo Haase, ein Gegner der Kreditbewilligung, am Nachmittag des 4. August unter dem Beifall der bürgerlichen Parteien die Erklärung, die wesentlich vom Sozialchauvinisten Eduard David ausgearbeitet worden war. In ihr hieß es: »Jetzt stehen wir vor der ehernen Tatsache des Krieges. Uns drohen die Schrecknisse feindlicher Invasionen. Nicht für oder gegen den Krieg haben wir heute zu entscheiden, sondern über die Frage der für die Verteidigung des Landes notwendigen Mittel.« Eine geradezu klassische Formulierung!

Die Kriegstreiber in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands hatten sich nicht nur einflußreiche Positionen in der Partei gesichert. Der zum Führungskern der Partei gehörende Abgeordnete Albert Südekum traf sich regelmäßig geheim mit der Reichsführung. Reichskanzler Bethmann Hollweg bat ihn um die Unterstützung der Regierungspolitik durch die sozialdemokratische Reichstagsfraktion. Südekum stimmte zu. Am Parteivorsitzenden Haase vorbei organisierte er den Übergang der SPD-Führung ins Lager des Großkapitals.

Beteiligt daran waren die späteren Verräter an der Novemberrevolution Friedrich Ebert, Otto Braun und Philipp Scheidemann. Südekum unterrichtete den Reichskanzler über seinen Erfolg, daß »keinerlei wie immer geartete Aktionen (General- oder partieller Streik, Sabotage und dergleichen) geplant oder auch zu befürchten seien«.

Die großen Massenkundgebungen der SPD gegen den drohenden Krieg – am 13. Juli waren es 13 reichsweite Kundgebungen, am 26. Juli vor dem Leipziger Gewerkschaftshaus kamen 37.000 Teilnehmer zusammen, wenige Tage später in Dresden 35.000, in Düsseldorf 20.000 – ließen die Herrschenden kalt. Der Reichskanzler informierte am 30. Juli im Preußischen Staatsministerium, er gehe davon aus, daß die SPD Südekums Versprechen halten werde.

Die Zustimmung der Sozialdemokratie zu den Kriegskrediten stellte einen offenen Bruch mit den auf den internationalen Sozialistenkongressen von Stuttgart (1907) und Basel (1912) eingegangenen Verpflichtungen dar.

»Tränen des Zornes und der Verzweiflung«

»Uns linke Sozialdemokraten«, erinnerte sich der schwäbische Sozialdemokrat Jacob Walcher, späterer Mitgründer der Kommunistischen Partei Deutschland (KPD), »traf diese entsetzliche Meldung mit betäubender Wucht. (…) In den Augen von nicht wenigen standen Tränen des Zornes und der Verzweiflung. Auf einer Tagung der Vertrauensleute in Stuttgart, die zwei Tage nach dem Verrat vom 4. August stattfand, hatte sich die Stimmung in entsprechenden Äußerungen Luft gemacht. Mit mehr als 80 gegen nur drei Stimmen wurde sowohl der Reichstagsfraktion als auch dem Parteivorstand das Mißtrauen ausgesprochen. Die sozialdemokratischen Vertrauensleute Stuttgarts, von verschwindenden Ausnahmen abgesehen, waren auch mit dem Verhalten Karl Liebknechts unzufrieden.«

Ähnliche Berichte gab es aus zahlreichen anderen Orten, auch aus Liebknechts Wahlkreis Potsdam. Aus diesem wie aus etlichen anderen Gründen stimmte Karl Liebknecht am 2. Dezember 1914 als einziger Abgeordneter gegen die neue Kriegskreditvorlage.

Das hatte begeisterte Zustimmung bei den konsequenten Kriegsgegnern innerhalb seiner Partei, aber auch aus dem kleinen Kreis bürgerlicher Pazifisten zur Folge – und ein haßerfülltes Kesseltreiben gegen ihn seitens seiner sozialchauvinistischen Fraktionskollegen mit dem Ziel, ihn aus der Fraktion auszuschließen und der Regierung ein Vorgehen gegen ihn zu erleichtern.

»Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!«

Anfang Februar 1915 wurde Karl Liebknecht als Armierungssoldat an die Front geschickt. Damit war er der Militärgerichtsbarkeit unterstellt und ihm jegliche politische Tätigkeit außerhalb des Reichstags und des preußischen Landtags verboten. Das diente schließlich zum Vorwand, ihn zu verhaften. Er rief bei einer von der Spartakusgruppe initiierten Kundgebung am Ersten Mai 1916 auf dem Potsdamer Platz in Berlin die Losung »Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!« aus.

In erster Instanz, am 28. Juni 1916, wurde er zu zwei Jahren, sechs Monaten und drei Tagen Zuchthaus verurteilt. Vom Oberkriegsgericht wurde das Urteil am 23. August 1916 zu vier Jahren und einem Monat sowie zum Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von sechs Jahren verändert. Die dagegen eingelegte Revision wurde verworfen, das Urteil damit rechtskräftig. Am 8. Dezember 1916 trat Liebknecht die ihm von der Klassenjustiz auferlegte Strafe im Zuchthaus Luckau an. Knapp zwei Jahre später, am 23. Oktober 1918, in der auch in Deutschland heranreifenden revolutionären Situation, kam er frei.

Keine drei Monate später, am 15. Januar 1919, war er tot – wie Rosa Luxemburg ermordet von Freikorpssoldaten, die im Einklang mit einem sozialdemokratischen Rat der Volksbeauftragten und vor allem dem sozialdemokratischen »Bluthund« Gustav Noske handelten, der die »Verantwortung« »nicht scheute«, den deutschen Militarismus und das Monopolkapital zu retten.