60 Prozent gegen Neoliberalismus
Regierungskoalition in Irland verliert bei Parlamentswahlen, schließt Sinn Féin aber weiter aus
Die Parlamentswahl vom vergangenen Freitag wird voraussichtlich keine Regierungsveränderung in Irland bringen. Obwohl Sinn Féin 19 Prozent der Stimmen erreichte und damit den beiden Regierungsparteien Fianna Fáil und Fine Gael nahekommt, wird die Partei erneut von der Regierung ausgeschlossen. Die regierende Koalition, die offen zugibt, daß ihre Politik den Zielen von Sinn Féin diametral entgegengesetzt ist, wird ihre Agenda fortsetzen, was Irlands schwere Wohnungsnot verschärft, staatliche Dienstleistungen durch neoliberale Politik abbaut, sich an die Militarisierung durch die EU und die USA anpaßt und die Neutralität des Landes untergräbt.
Das irische Wahlsystem basiert auf Verhältniswahlrecht mit übertragbarer Einzelstimme, womit die gewählten Vertreter die Wählerpräferenzen genau widerspiegeln. Die Wähler ordnen die Kandidaten nach ihrer Präferenz, und ein Kandidat muß ein Quorum erreichen, um einen Sitz zu gewinnen. Überschüssige Stimmen von Kandidaten, die das Quorum übertreffen, sowie Wählerpräferenzen ausgeschiedener Kandidaten werden umverteilt, bis alle Sitze besetzt sind. Dieses System garantiert zwar eine faire Repräsentation, erfordert jedoch einen aufwendigen Auszählungsprozeß, der Tage dauern kann.
Nach einem Jahrhundert wechselnder politischer Macht zwischen Fine Gael, Fianna Fáil und ihren Verbündeten sieht sich Irland mit wachsenden Krisen konfrontiert. Fast 15.000 Menschen sind obdachlos, die Mieten steigen rasant, Notunterkünfte sind überlastet. Mehr als 40 Prozent der Eltern berichten, daß sie Mahlzeiten auslassen, um ihre Kinder satt zu bekommen. Krankenhäuser sind überfüllt, verzögerte Behandlungen führen zu Todesfällen, Personal aus dem Gesundheitswesen wandert in großen Zahlen aus.
Auch Irlands Wohnungs-, Gesundheits- und Lebenskostenkrisen sind das Ergebnis eines Systems, das Profit über Menschen stellt, Großunternehmen und Immobilienentwickler begünstigt und das Gemeinwohl vernachlässigt. Sinn Féin hingegen hat detaillierte Pläne zur Lösung der Wohnungsnot, zur Ausweitung kostenloser medizinischer Versorgung und zur Senkung der Lebenshaltungskosten vorgelegt.
Auch die Außenpolitik Irlands steht in der Kritik, gegenwärtig vor allem wegen der Nutzung irischen Luftraums durch Militärflüge der USA während des Gaza-Kriegs.
Umfragen spiegeln diese Lage wider: Die Unterstützung für Fine Gael sinkt, während Sinn Féin an Boden gewinnt. Fine Gael und Fianna Fáil, einst dominante Kräfte, kommen zusammen nur noch auf etwa 40 Prozent der Stimmen – weit entfernt von den 81,8 Prozent, die sie 1982 gemeinsam hatten. Die zunehmende Offenheit der Wählerschaft für Alternativen deutet an, daß die Ära ihrer politischen Vorherrschaft enden könnte.
Die Wahlbeteiligung von knapp unter 60 Prozent, die niedrigste seit über einem Jahrhundert, spiegelt die weit verbreitete Desillusionierung gegenüber dem parlamentarischen System wider. Sinn Féin erlitt Verluste durch eine feindselige Medienkampagne und den Aufstieg rechtsextremer Xenophobie. Diese wurde verstärkt durch Online-Kampagnen aus den USA, Israel und Britannien gegen Sinn Féin und ihre Vorsitzende Mary Lou McDonald im Zusammenhang mit der Einwanderung nach Irland.
Negative Berichterstattung wurde durch die öffentlichen und privaten Medien gegenüber Sinn Féin während dieses Wahlkampfs auf die Spitze getrieben. Sinn Féin hatte angekündigt, die Berichterstattung des öffentlich-rechtlichen Senders RTÉ (Raidió Teilifís Éireann) über den Gaza-Völkermord im Falle eines Wahlsiegs zu überprüfen.
Zusätzlich erlitt Sinn Féin Gegenwind durch ihre Haltung im jüngsten Referendum, das die Streichung des Wortes »Frau« aus der Verfassung betraf – ein Schritt, der einige Wähler der Arbeiterklasse entfremdete. Diese Faktoren überschatteten Sinn Féins mutige wirtschaftliche und soziale Vorschläge, die eine echte Bedrohung für die etablierten Parteien darstellen.
Trotzdem erzielte Sinn Féin bemerkenswerte Erfolge. Finanzsprecher Pearse Doherty erreichte die höchste Stimmenzahl landesweit. In Galway-West führte Mairéad Farrell die Wahl an – sie ist die erste Frau, der das in ihrem Wahlkreis gelang. Gemeinsam mit der unabhängigen Kandidatin Catherine Connolly gelang ein historischer linker Sieg. In weiteren 14 Wahlkreisen führte Sinn Féin und erhielt mehr Mandate als Fine Gael mit den Grünen zusammen.
Seit über einem Jahrhundert hören Wähler, es gebe keine Alternative zu den dominierenden Parteien. Der Erfolg von Sinn Féin, zusammen mit Gewinnen anderer linker Kandidaten, signalisiert wachsende Unterstützung für eine Politik, die öffentliche Bedürfnisse über private Gewinne stellt.
Nimmt man die 40 Prozent der Wahlberechtigten, die sich nicht mehr an Wahlen beteiligen, zusammen mit den 20 Prozent, die für Sinn Féin stimmten, gibt es eine deutliche Mehrheit gegen Neoliberalismus, die ihre Forderungen jetzt auf die Straße bringen muß.