Ausland04. August 2021

Libanon – ein Jahr danach

Wie auf der Titanic

von Karin Leukefeld

Vor einem Jahr, am 4. August 2020, wurde der Hafen von Beirut durch eine Explosion zerstört. Ohne Wirtschaft und ohne Regierung treibt der Libanon steuerlos. Die Bevölkerung weiß nicht, wie sie überleben soll. Die herrschenden Eliten und ihre ausländischen Partner schachern um Geld und Einfluß.

Die Zerstörung

Es war gegen 18 Uhr Ortszeit, als sich vor einem Jahr eine gigantische Explosion im Hafen von Beirut ereignete. Manche dachten an ein Erdbeben, viele dachten an einen israelischen Luftangriff. Manche fühlten sich angesichts des Feuerballs in den Bürgerkrieg zurückversetzt.

Mehr als 200 Menschen starben, mehr als 5.000 wurden verletzt. Große Teile der alten Beiruter Hafenviertel Mar Mikhail, Qarantina und Gemmayzeh wurden ganz oder teilweise zerstört. Selbst in entfernt liegenden aber doch der Hafenbucht zugewandten Stadtvierteln wurden Fenster zerstört, Balkone ab- und Hauswände aufgerissen.

In den folgenden Tagen wurde bekannt, daß mehr als 2.000 Tonnen Ammoniumnitrat in die Luft geflogen war. Das Material war unsachgemäß gelagert und vernachlässigt worden, nachdem das Lastschiff »MV Rhosus« mit der angeblich für Mosambique bestimmten Ladung von 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat im November 2013 den Hafen von Beirut angelaufen hatte und dort als seeuntüchtig aus dem Verkehr gezogen worden war. Niemand wollte das Schiff oder die Ladung zurücknehmen, die schließlich in Hangar 12 gelagert wurde.

Vier Premierminister und deren Regierungen hatten die tödliche Fracht seit 2013 ignoriert, bis sie sich – offiziell durch ein Feuer von ebenfalls dort gelagerten Feuerwerkskörpern – entzündete. Satellitenaufnahmen zeigen, daß dort, wo Hangar 12 gestanden hatte, ein tiefer Krater klafft. Das Meer ist eingespült und läßt den Ort wie eine kleine Bucht aussehen.

Bittere Bilanz nach einem Jahr

Die Zerstörung des Hafens von Beirut setzte eine Kettenreaktion in Gang, die Wirtschafts- und Finanzkrise im Libanon massiv verschärfte. Niemand entschuldigte sich bei den Opfern, die Hilfe bei ihren Familien, ihrer Religionsgruppe oder ihrem jeweiligen Lieblingsausland suchten: Frankreich, Deutschland, die USA, Saudi Arabien oder Katar. Diese Länder finanzieren Hilfsorganisationen und deren Projekte. Geld für die Regierung Diab – Bildungs- oder Gesundheitsministerium – gibt es nur über die UNO.

Die UNO-Spezialorganisation UNICEF weist vor allem auf die vielen Probleme für Kinder und Familien hin, die versuchen, inmitten der zahlreichen Krisen zu überleben. Wirtschafts- und Finanzkrise, politische Instabilität und nicht zuletzt die verheerenden Auswirkungen der Maßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie – Schließungen von Schulen und Universitäten, von Betrieben und selbst dem Flughafen – werden Kinder und ihre Familien auf Jahre hin beeinträchtigen, heißt es in einer UNICEF-Erklärung.

Premierminister Hassan Diab übernahm die politische Verantwortung für die Explosion und trat mit seiner Regierung nach lediglich sechs Monaten Amtszeit zurück. Allerdings muß die Diab-Regierung geschäftsführend im Amt bleiben, bis ein neuer Ministerpräsident und eine neue Regierung vom Parlament und Präsidenten bestätigt werden. Doch bis heute blockieren politische Machtspiele der inneren und äußeren Akteure die Bildung einer neuen Regierung.

Es gehe zu wie auf der Titanic, sagt Mohammad Ballout, langjähriger Korrespondent der libanesischen Tageszeitung »As Safir« und anderer Medien, im Gespräch mit der Autorin: »Libanon geht unter, doch die Musik spielt weiter. Nur mit dem Unterschied, daß auf der Titanic 2.000 Menschen waren. Wir sind 5 Millionen.«

Der Milliardär Mikati soll eine Regierung bilden

Ende Juli beauftragte das libanesische Parlament den Geschäftsmann Najib Mikati mit der Regierungsbildung. Das Magazin »Forbes« beziffert das Vermögen Mikatis auf 2,7 Milliarden US-Dollar. Das Unternehmen, das er mit seinem Bruder Taha führt, der laut »Forbes« 2,8 Milliarden US-Dollar reich ist, arbeitet weltumspannend im Bereich von Telekommunikation und Immobilien.

Mikati sei eine tragende Säule des libanesischen Regimes, sagt der Journalist Mohammad Ballout. Zusammen mit seinem Bruder Taha habe er nach dem Bürgerkrieg unter dem damaligen Premierminister Rafik Hariri zunächst als Mobilfunkanbieter ein Vermögen erwirtschaftet. Das Familienunternehmen breitete sich nach Syrien, Afrika und Asien aus und sei heute auch in Europa aktiv.

Najib Mikati vertrete keine Partei, er verstehe sich mit allen und habe durchaus Chancen, eine Regierung bilden zu können, erklärt Mohammad Ballout weiter. Die Öffentlichkeit könne er durch die von ihm finanzierte Internetplattform »Lebanon 24« beeinflussen. Während andere die verschiedenen Interessen spalteten, könne Mikati sie verbinden: »Anders als Hariri hat Mikati kein Problem mit (Präsident) Michel Aoun. Er hat kein Problem mit Hisbollah oder Amal, den Schiiten. Und er hat kein Problem mit den Sunniten. Außerdem weiß er sowohl die USA, als auch die arabischen Golfstaaten und Frankreich hinter sich. Er hat viele Karten in der Hand.«

Najib Mikati hat bereits angekündigt, er wolle den Vorschlag Frankreichs umsetzen, sollte er eine neue Regierung bilden können. Er habe keinen Zauberstab, aber er habe Garantien. Über ein Regierungsprogramm brauche Mikati sich keine Sorgen machen, meint Mohammad Ballout. »Er braucht kein Programm, keine libanesische Regierung braucht ein Programm, weil der IWF das Programm bereits festgelegt hat. Es geht darum, daß der Libanon die IWF-Bedingungen akzeptiert. Das ist, was als ‚Reformen’ bezeichnet wird.« Sollte eine Regierung Mikati zustimmen, werde Frankreich die Verhandlungen beim Internationalen Währungsfonds (IWF) für den Libanon führen, sagt Mohammad Ballout. Die USA, die im IWF den Ton angeben, haben ihre Zustimmung signalisiert.

Reich im armen Land

Innenpolitisches Problem für Najib Mikati sei, sich mit Präsident Michel Aoun über den Posten des Innenministers zu einigen. Die Amtszeit von Präsident Aoun sei 2022 zu Ende, im März seien Parlaments- und im November seien Präsidentschaftswahlen geplant: »Aoun hat nichts vorzuweisen, was er erreicht hätte«, führt Mohammad Ballout aus. »Im Gegenteil, die Lage ist schlimmer als 1920, als Frankreich Mandatsmacht wurde. Aoun will sicherstellen, daß sein Schwiegersohn ihm als Präsident folgt, dafür will er das Innenministerium kontrollieren, um auf die Wahlen Einfluß nehmen zu können.«

So wenige Probleme Najib Mikati mit ausländischen Akteuren zu haben scheint, so gering ist sein Ansehen bei den Libanesen. Er hatte sich vor einigen Jahren für den Bau von Luxuswohnungen für sich und seinen Sohn aus einem Kreditfonds bedient, der nicht für Milliardäre, sondern für arme und Mittelstands-Familien vorgesehen ist, wenn sie Eigentum erwerben wollten. Der Chef der Zentralbank, Riad Salameh hatte den Kredit, der aus öffentlichen Geldern gespeist und über eine weitere Bank ausgezahlt worden war, möglich gemacht. Ein Ermittlungsverfahren gegen Mikati war 2019 eingestellt worden. Doch die Libanesen vergessen nicht, daß der Milliardär Mikati öffentliche Gelder für den Bau von Privatwohnungen benutzt hat. Heimat von Najib Mikati ist die nordlibanesische Hafenstadt Tripoli. Sie gilt als eine der ärmsten Städte im östlichen Mittelmeerraum.

EU: Sanktionen statt Politik

Nur wenige Tage nachdem das Parlament im Libanon Najib Mikati beauftragt hat, eine neue Regierung zu bilden, hat die EU-Kommission den juristischen Rahmen für Strafmaßnahmen gegen den Zedernstaat auf den Weg gebracht. Bestraft werden sollen Personen und Unternehmen, die im Libanon »gegen das Recht verstoßen und die Demokratie gefährden«, hieß es in einer entsprechenden Erklärung. Genannt werden Korruption, Menschenrechtsverletzungen, Blockadehaltung bei der Regierungsbildung und »finanzielles Fehlverhalten«. Das Wichtigste sei, heißt es von der EU, daß eine Regierung gebildet werde, die »die notwendigen Maßnahmen umsetzt, um das Land in eine nachhaltige Erholung zu führen.«

Frankreich und Deutschland stehen an der Spitze der EU-Staaten, die die miteinander konkurrierenden politischen Eliten im Zedernstaat durch Sanktionen unter Druck setzen wollen, ihre Politik zu ändern und Reformen einzuleiten. Der Sanktionsplan sieht vor, Reisebeschränkungen auszusprechen und privates Vermögen in Banken auf EU-Gebiet zu beschlagnahmen. Gleichzeitig dürfen Gelder aus der EU nicht an den Libanon ausgezahlt werden, sollten die von Sanktionen betroffenen Personen einen Regierungsposten haben.

Tatsächlich geht es darum, zu verhindern, daß der Libanon sich China zuwendet, das dem Land bereits großzügige Hilfsangebote auch für den Wiederaufbau des Beiruter Hafens vorlegte. David Schenker, ehemaliger Staatssekretär für Nahost im USA-Außenministerium bezeichnete das für den Westen ein »worst case scenario«.

Die USA und die EU wollen stattdessen den Libanon unter das Diktat des Internationalen Währungsfonds pressen. Die Umsetzung der damit verbundenen Konditionen bedeutet die Privatisierung der letzten noch staatlich verwalteten Bereiche wie Elektrizität und Telekommunikation. Auch die zukünftige Förderung der libanesischen Gasressourcen aus dem Mittelmeer wäre davon betroffen. Namentlich nicht genannte EU-Beamte haben allerdings durchblicken lassen, daß mit der Umsetzung von Sanktionen gegen den Libanon nicht sofort zu rechnen sei.

Ungeschminkte Einflußnahme

Die USA begrüßten die Sanktionsentscheidung der EU-Kommission. Washington freue sich »auf die zukünftige Zusammenarbeit mit der EU bei unseren gemeinsamen Vorhaben«, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung von USA-Außenminister Antony Blinken und Finanzministerin Janet Yellen.

Die USA haben Sanktionen gegen verschiedene ehemalige Minister verhängt, die nach Darstellung Washingtons mit der Hisbollah zusammengearbeitet hätten. Auch Gibran Bassil ist von USA-Sanktionen betroffen. Der Schwiegersohn von Präsident Michel Aoun ist Vorsitzender der Freien Patriotischen Bewegung, FPM, die mit 27 Abgeordneten den größten Block im libanesischen Parlament stellt. Die FPM agiert im Bündnis mit der schiitischen Amal-Bewegung und der Hisbollah, die im Westen als Terrororganisation verunglimpft und der Verbindungen mit dem Iran vorgeworfen werden. Gemeinsam verfügen FPM, Amal und Hisbollah über eine Mehrheit im Parlament. Präsident Aoun will Gibran Bassil als seinen Nachfolger installieren.

Innerhalb der EU hat sich bereits Ablehnung gegen ein mögliches Sanktionsregime gegen den Libanon formiert. Italien hält die Maßnahme für nicht zielführend, Ungarn lehnt ein Sanktionsregime gegen einen christlichen Staat ab.