Ausland03. Mai 2023

Der 1. Mai ganz im Zeichen der Ablehnung der »Rentenreform«

Frankreichs Regierung kann nicht »zur Tagesordnung übergehen«

von Ralf Klingsieck, Paris

Der 1. Mai stand in Frankreich in diesem Jahr ganz im Zeichen der anhaltenden Proteste gegen die »Rentenreform«. Während die Regierung darauf gesetzt hatte, daß der bereits dreieinhalb Monate anhaltenden Bewegung der Atem ausgehen und sie nach und nach »versanden« würde, wollten die Gewerkschaften mit ihrer Mobilisierung beweisen, daß der Widerstand ungebrochen ist.

An den Demonstrationen nahmen in ganz Frankreich nach Angaben der Organisatoren 2,3 Millionen Menschen teil, davon 550.000 allein in Paris, während das Innenministerium landesweit 782.000 und in Paris 112.000 Demonstranten »gezählt« hat. Für einen 1. Mai ist das ein großer Erfolg, der auf dem Erfolg der zurückliegenden zwölf Streik- und Aktionstage gegen die »Reform« beruht, nachdem am 7. März insgesamt 3,5 Millionen Menschen auf die Straße gegangen waren.

Das Innenministerium hatte 12.000 Polizisten und Gendarmen eingesetzt. Trotzdem kam es in Paris, in Lyon, in Rennes und in weiteren Städten am Rande der Demonstrationen zu mutwilligen Zerstörungen, Brandstiftungen und Zusammenstößen mit der Polizei, die von den Gewerkschaften scharf verurteilt werden. In diesem Zusammenhang erklärte ein Polizeigewerkschafter, daß viele Mitglieder seiner Organisation »nicht länger auf der Straße ihren Kopf hinhalten wollen, weil die Politiker die sozialen Probleme nicht auf dem Verhandlungsweg gelöst haben«.

Erstmals haben die Ordnungskräfte Drohnen mit Kameras eingesetzt. Einzelne Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen haben in verschiedenen Städten die Justiz gegen diese Überwachungsmaßnahmen angerufen. Die Gerichte entschieden durchweg, daß der Einsatz von Drohnen durch die Polizei »gerechtfertigt und angemessen« sei, setzten dafür aber einen räumlichen und zeitlichen Rahmen. Dazu sagte der Generalsekretär der Gewerkschaft CFDT, Laurent Berger: »Gegen die Überwachung mit Hilfe von Drohnen ist nichts einzuwenden, wenn die Polizei dadurch die Gewaltakte radikaler Kräfte verhindern kann.« Dagegen bekräftigte die Gewerkschaft CGT ihre klare Ablehnung und warnte vor einem »Abgleiten in Richtung auf einen totalen Überwachungsstaat«.

Über das vergangene Wochenende und den 1. Mai hinweg gab es auch wieder Proteststreiks gegen die »Rentenreform«. So mußten wegen einer mehrtägigen Arbeitsniederlegung von Fluglotsen auf den Flughäfen Paris-Orly, Bordeaux, Marseille, Nantes, Toulouse und Lyon 33 Prozent der Flüge gestrichen werden und in Paris-Roissy 25 Prozent.

Entscheidend für den Druck, den die Gegner der »Rentenreform« auf die Regierung ausüben konnten und noch können, ist die beispiellose Einheitsfront aller großen Gewerkschaften des Landes. Ihre führenden Repräsentanten gingen dem Demonstrationszug in Paris voran. Dabei erklärte CFDT-Generalsekretär Laurent Berger: »Unsere gemeinsame Entschlossenheit, den Kampf fortzusetzen, ist ungebrochen.« Die Generalsekretärin der Gewerkschaft CGT, Sophie Binet, versicherte: »Wir wissen, daß wir noch siegen können. Während Emmanuel Macron alles tut, um uns zu isolieren, konnten wir unsere Rolle bei der Verteidigung des französischen Sozialmodells unter Beweis stellen.« Daß die Gewerkschaften durch die Protestbewegung seit Anfang des Jahres an Gewicht und Legitimität gewonnen haben, zeigt nicht zuletzt die Zahl von rund 30.000 neugewonnenen Mitgliedern sowohl bei der CFDT als auch bei der CGT.

Da laut Umfragen zwei Drittel der Franzosen die »Rentenreform« der Regierung ablehnen, setzen die Gewerkschaften große Hoffnung in ihren Antrag auf die Organisierung eines Referendums, über den der Verfassungsrat am Mittwoch entscheiden will.

Dagegen möchte die Regierung endlich »die Seite der Rentenreform umschlagen« und wieder »zur Tagesordnung übergehen«. So hat Premierministerin Elisabeth Borne die Gewerkschaften zu einem noch zu präzisierenden Termin für ein Gespräch über mögliche Verbesserungen der Arbeitsbedingungen eingeladen. Ein solches Treffen hatte bereits unmittelbar nach der Entscheidung des Verfassungsrates über die Rechtmäßigkeit der »Reform« stattfinden sollen, wurde aber von den Gewerkschaften geschlossen abgelehnt. Jetzt nach der eindrucksvollen Mobilisierung für die Demonstrationen zum 1. Mai hat sich die Situation geändert, meint die CFDT. Sie hat bereits ihre Teilnahme zugesagt, fordert aber auch weitere Tagesordnungspunkte, etwa über Lohnerhöhungen zum Ausgleich der Inflation. Die Gewerkschaft CGT, die nach wie vor die Forderung nach Rücknahme der »Rentenreform« in den Vordergrund stellt, hat noch nicht entschieden, ob sie an dem Treffen mit der Regierungschefin teilnimmt oder ihm demonstrativ fernbleibt.

Die Auseinandersetzungen um die Reform haben selbst Auswirkungen auf die internationalen Finanzmärkte. So hat die Ratingagentur Fitch, die für Investoren die verschiedenen Länder bewertet, am vergangenen Freitag Frankreich zurückgestuft von der Note AA auf AA-, nachdem das Land bereits Ende 2021 die Bestnote AAA verloren hatte. Begründet wurde die negativere Neubewertung mit der hohen Staatsverschuldung und dem weiter steigenden Budgetdefizit, vor allem aber auch mit der »politischen Ausweglosigkeit« und den »oft gewaltigen sozialen Bewegungen«, die nach Überzeugung der Agentur den Handlungsspielraum der Regierung und die Umsetzung der »Reformpläne« von Präsident Macron »stark einschränken«.