Leitartikel13. Dezember 2022

Ein Skandal sondergleichen

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In der Europäischen Union kracht und zofft es an allen Ecken und Enden. Der jüngste Skandal – zumindest bis Redaktionsschluß dieser Ausgabe der »Zeitung«: Die Entlarvung einer Korruptionsaffäre, in die eine Vizepräsidentin des EU-Parlaments verstrickt sein soll. Die Welle der Empörung, die sich seit dem Wochenende auftürmte, zeigt das Pharisäertum, die Heuchelei und die Verlogenheit, mit denen sich die bürgerlichen Demokratie und deren gesamter Staatsapparat heute präsentieren.

Es ist bezeichnend, wenn sich Politiker öffentlich darüber empören, daß eine der Ihren offenbar mit größeren Geldbeträgen oder anderen Zuwendungen dazu bewegt wurde, den Golfstaat Katar zu loben, ausgerechnet in einer Zeit, in der selbst Fußballfans sich scheuen, Übertragungen von WM-Spielen anzuschauen. Katar ist eben nicht nur für seinen unermeßlichen Ölreichtum bekannt, sondern auch wegen der tiefgreifenden Verachtung von Menschenrechten, der übermäßigen Ausbeutung ausländischer Arbeiter, und nicht zuletzt wegen der Komplizenschaft mit Saudi-Arabien beim Krieg im Jemen. Und wenn sich Verantwortliche der FIFA von Katar schmieren lassen – warum dann nicht auch Abgeordnete im EU-Parlament?

Die griechische Sozialdemokratin, die inzwischen mit viel Lärm aus der Fraktion und aus ihrer Partei gefeuert wurde, ist nicht mehr und nicht weniger als ein Bauernopfer. Sie hatte das Pech, erwischt zu werden, und sie war so unvorsichtig, die Wünsche ihrer Gönner allzu öffentlich kundzutun.

In den Räumlichkeiten des EU-Parlaments tummeln sich etwa 25.000 Lobbyisten. Diese Leute haben keine andere Aufgabe, als Abgeordnete von den edlen Absichten ihrer Auftraggeber zu »überzeugen« – das sind die Autoindustrie, Pharmakonzerne, Öl- und Gasunternehmen, Banken, die Logistikbranche und viele andere kapitalistische Unternehmen, denen es darum geht, die für sie günstigsten Bedingungen zu schaffen, um Maximalprofite zu generieren. Lobbyisten kommen nicht nur zum Teetrinken. Sie haben diverse »Gegenleistungen« in der Tasche, die sie großzügig vergeben können. Und die gewählten Volksvertreter wiederum sind ihrer Fraktion und erst recht ihren Wählern gegenüber keinerlei Rechenschaft schuldig.

Diese Praxis ist stinknormal in einer Gesellschaft, in der Profit über allen anderen Interessen steht. In jenen Ländern, in denen der Kapitalismus bereits seit vielen Jahrzehnten sein staatliches System etabliert hat, wurden auch entsprechende Gesetze geschaffen, die lediglich vor allzu gierigen Auswüchsen schützen sollen.

Allerdings kam der jüngste Eklat wieder einmal zur passenden Zeit an die Öffentlichkeit. Er läßt sich nämlich vorzüglich dazu nutzen, die eigentlichen Skandale und den Zoff zu übertönen, mit denen die EU geplagt ist. Streit mit den USA über Subventionen, Reibereien über die Aufnahme in den Schengen-Raum, die seit Jahren völlig verfehlte Asylpolitik, der sinnlose Streit über »Rechtsstaatlichkeit«, wachsende Probleme im Gesundheitswesen, der maßlos ausufernde Wirtschaftskrieg gegen Rußland … die Liste ist lang.

Dabei wird auch übertönt, daß die EU beschlossen hat, der kriegführenden Ukraine einen weiteren Kredit in Höhe von 18 Milliarden Euro zu zahlen. Für diese Großzügigkeit müssen die Mitgliedstaaten aufkommen, die ihre Souveränität über Haushaltsfragen längst an Brüssel abgetreten haben. Letztlich dafür zur Kasse gebeten werden die ohnehin gebeutelten Bürger, und klar ist, daß die Milliarden von der Ukraine frühestens am Sankt-Nimmerleinstag zurückgezahlt werden. Ein Skandal sondergleichen!