Die Katastrophe nimmt ihren Lauf
Der israelische »Unabhängigkeitskrieg« und die palästinensische Katastrophe, die Nakba
Am 29. November 1947 verabschiedete die Generalversammlung der Organisation der Vereinten Nationen die Resolution 181 (II), den Teilungsplan für Palästina. Unmittelbar darauf begann die systematische Vertreibung von bis zu 800.000 Palästinensern. Was die Israelis »Unabhängigkeitskrieg« nennen, ist für die Palästinenser bis heute »die Katastrophe« – »Nakba«
Laut UNO-Charta wäre die Generalversammlung nicht befugt gewesen, eine Entscheidung von solcher Tragweite zu treffen. Nach Artikel 1, Absatz 2 der Charta müssen »Beziehungen zwischen den Nationen« den Grundsatz von »Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker« respektieren. Palästina in einen arabischen und einen jüdischen Staat zu teilen, hätte mindestens ein Referendum der dort lebenden Bevölkerung erfordert.
Doch das von der UNO eingerichtete Sonderkomitee Palästina (UNSCOP), das den Teilungsplan befürwortete, setze sich durch: ein Referendum gab es nicht, und mit einer knappen Mehrheit von 21 zu 20 Stimme bei 13 Enthaltungen wurde die Abstimmung über die Teilung Palästinas der Generalversammlung überlassen. Dort stimmten schließlich 33 Staaten für die Aufteilung, 13 Staaten stimmten dagegen und 10 Staaten enthielten sich.
Keiner der zustimmenden Staaten lag auch nur annähernd in der Nachbarschaft Palästinas. Alle damals existierenden Staaten der Region – Türkei, Libanon, Syrien, Irak, Iran, Saudi-Arabien, Jemen und Ägypten – stimmten gegen den Teilungsplan und wurden von Afghanistan, Griechenland, Indien, Kuba und Pakistan unterstützt.
Der zionistische »Unabhängigkeitskrieg«
Die rund 1,9 Millionen Menschen in Palästina wurden nicht gefragt. Zwei Drittel waren muslimische, christliche und drusische Palästinenser. Etwa ein Drittel waren Juden, die in den 50 Jahren zuvor nach Palästina zugewandert waren.
Unmittelbar nach der Verabschiedung der Teilungsresolution begann der »Unabhängigkeitskrieg«, wie es in Israel heißt. In den Kriegstagebüchern des späteren Premierministers David Ben Gurion ist am 15. Januar 1948 nachzulesen, was das strategische Ziel des Krieges war: »Die Zerstörung der städtischen Gemeinden, die die organisiertesten und politisch bewußtesten Teile des palästinensischen Volkes waren.« Die ländlichen Siedlungen in der Umgebung der Städte sollten »erobert und zerstört« werden, um die städtischen palästinensischen Gemeinden »von Transportmitteln, Lebensmitteln und Rohstoffen« abzuschneiden. Der so ausgelöste »Prozeß des Zerfalls, des Chaos und Hungers« sollte die Palästinenser zur Aufgabe zwingen.
Anfang April 1948 verschärften die jüdischen Milizen ihre militärische Strategie mit »Plan D« (Dalet), der von der Untergrundorganisation »Haganah« (»Verteidigung«) ausgearbeitet worden war. »Plan D« bedeutete die Vertreibung der arabischen Bevölkerung. Ihre Dörfer sollten zerstört werden, um die Rückkehr der Vertriebenen zu verhindern. Die »Haganah« war die wichtigste und am besten bewaffnete der zionistischen paramilitärischen Organisationen. Sie war 1920 unter der britischen Mandatsmacht entstanden und bildete bei der Gründung des Staates Israel am 15. Mai 1948 den Kern der neuen Israelischen Streitkräfte.
Vertreibung und Zerstörung
Am 9. April 1948 wurde Deir Yazzin angegriffen. Der kleine Ort lag westlich von Jerusalem. Die etwa 600 Bewohner von Deir Yazzin hatten sechs Jahre zuvor mit den jüdischen Gemeinden der Nachbarschaft offiziell Freundschaft geschlossen. Das Dorf war weitgehend ohne den Schutz der Männer, weil diese an der Beerdigung des bekannten Politikers und Widerstandskämpfers Abdulkader al-Husseini teilnahmen, der am Tag zuvor, am 8. April beim Kampf um den Ort Castel getötet worden war.
Die Milizen von Irgun nutzten diese Lage und ermordeten wahllos die Menschen in Deir Yassin. Im Bericht des Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) heißt es, »mindestens 200 Personen, Männer, Frauen und Kinder, wurden in Deir Yassin von Irgun getötet, nach ihren eigenen Angaben«.
Verstümmelt, enthauptet und vergewaltigt
Die israelische Filmemacherin Neda Shoshani recherchierte in israelischen Archiven und fand Filmaufnahmen und Berichte über das, was in Deir Yassin geschehen war. Die Menschen seien »verstümmelt, enthauptet, ausgeweidet und vergewaltigt« worden. Sie zeigte ihre Aufnahmen der israelischen Zeitung »Haaretz«, die schrieb: »Der Film zeigt einen jungen Mann, der an einen Baum gefesselt ist und in Brand gesteckt wird. Einer Frau und einem alter Mann werden in den Rücken geschossen. Mädchen werden vor einer Mauer aufgestellt und mit einem Maschinengewehr erschossen.«
In ihrem 2017 erschienen Dokumentarfilm »Born in Deir Yassin« (Geboren in Deir Yassin) kommen an dem Massaker beteiligte Milizionäre zu Wort, die ihr Handeln ohne Scheu beschreiben. Er habe einen bewaffneten Araber und zwei arabische Mädchen getötet, sagt einer der Männer. »Ich stellte sie an eine Wand und dann habe ich sie mit zwei Schüssen aus dem Maschinengewehr erschossen.«
Die Milizen hätten »eine Menge Geld, Silber- und Goldschmuck« erbeutet. Die Toten seien aufgestapelt und angezündet worden, sagt ein anderer. Ein mittlerweile verstorbener ehemaliger Oberstleutnant der israelischen Armee spricht von einem »Massaker«.
In israelischen Militärarchiven seien alle Beweise begraben, erfuhr die Filmemacherin Shoshani. Auch der Oberste Gerichtshof verweigerte die Herausgabe der Aufnahmen mit der Begründung, daß bei einer Veröffentlichung der Aufnahmen »die außenpolitischen Beziehungen des Staates und der ‚Respekt vor den Toten‘ Schaden nehmen könnten«.
Seit 75 Jahren: Vertreibung und Zerstörung
Der offiziell von Israel als »Unabhängigkeitskrieg« bezeichnete Vertreibungsfeldzug gegen die arabische Bevölkerung in Palästina hält auch 75 Jahre nach der gewaltsamen Gründung des Staates Israel unvermindert an. Der damals von der »Haganah« ausgearbeitete »Plan D«, der die Vertreibung der arabischen Bevölkerung und die Zerstörung ihrer Dörfer vorsah, damit die Menschen nicht zurückkehrten, wird heute von der israelischen Besatzungsarmee fortgeführt.
Häuser, Schulen, Lager und Viehställe der Palästinenser werden zerstört. Die Menschen werden vertrieben und in Lager gezwungen. Ein System von Apartheid bestimmt den Alltag. Die Bewegung der Palästinenser ist eingeschränkt, freier Handel ist nicht möglich, der Gazastreifen ist von Israel auf dem Land, in der Luft und auf dem Wasser blockiert.
Kontrolle über das Westjordanland
Ein ausgeklügeltes Besatzungsregime hängt wie ein Spinnennetz über dem Westjordanland, das den Palästinensern nach vielen Verhandlungen (»Oslo I«, »Oslo II«) offiziell geblieben ist. Das Land ist in drei Zonen aufgeteilt. Die A-Zone (18 Prozent) steht unter Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde, wird aber durch Mauern und Kontrollpunkte zerschnitten. Die B-Zone (20 Prozent) umfaßt ländliche Gebiete, die von der Autonomiebehörde zwar verwaltet, von der israelischen Besatzungsarmee aber kontrolliert wird. Die C-Zone (62 Prozent) wird von Israel »aus Sicherheitsgründen«administrativ und militärisch kontrolliert.
Trotz gegenteiliger Beteuerungen und Abkommen unternimmt Israel nichts, um den Palästinensern auch nur ein Stück Land zu freien Bewirtschaftung und Entfaltung zu lassen. Im Gegenteil, mit massivem Siedlungsbau werden zukünftige Entwicklungen eines angestrebten Staates Palästina verbaut. Was den Palästinensern bleibt, sind inselartige Gebilde und Lager, in denen heute die Nachfahren der Menschen leben, die vor 75 Jahren von den jüdisch-zionistischen Milizen um die »Haganah« vertrieben, ermordet, verstümmelt wurden. Was den Palästinensern bleibt, ist ein Freiluftgefängnis wie der Gaza-Streifen in dem es keine Perspektiven gibt.
Mindestens 81 Palästinenser seit Jahresbeginn getötet
Nach Angaben des UNO-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) wurden in den 86 Tagen seit Anfang des Jahres bis zum 27. März 2023 im Westjordanland 81 Palästinenser von Israelischen »Sicherheitskräften« erschossen, 246 wurden verletzt. Im gleichen Zeitraum wurden durch Angriffe einzelner Palästinenser in Israel und im Westjordanland 14 Israelis getötet und 37 wurden verletzt. Arabische Medien beziffern die Zahl getöteter Palästinenser Anfang April mit 92.
Der jüngste Angriff israelischer Polizeikräfte ereignete sich am 6. April 2023, im Fastenmonat Ramadan, in der Al Aqsa Moschee. Der Angriff auf 400 Gläubige in einer der wichtigsten religiösen Stätten der Muslime hat eine massive Reaktion sowohl aus dem Gaza-Streifen als auch aus dem südlichen Libanon provoziert. Dutzende Raketen wurden auf den Norden und Süden Israels gefeuert. Die palästinensische Hamas und die libanesische Hisbollah schließen ihre Kräfte zusammen.
Die israelischen Besatzungskräfte drangsalieren nicht nur muslimische Palästinenser. Am Mittwoch protestierten die Kirchen im israelisch besetzten Ostjerusalem dagegen, daß Israel den christlichen Gläubigen den freien Zugang zur Grabeskirche versperren wolle. Hunderte von Genehmigungen für Christen aus dem Gaza-Streifen seien rückgängig gemacht worden, hieß es.
Israel habe angeordnet, daß nur 1.800 Gläubige am bevorstehenden orthodoxen Osterfest zugelassen werde, hieß es in einer Mitteilung der Kirchen. Die Kirche und die umliegenden Orte fassen normalerweise 10.000 Personen. Das jordanische Außenministerium warnte Israel davor, den Zugang der Gläubigen zur Grabeskirche während der Osterfeierlichkeiten zu begrenzen.