Ausland30. August 2023

»Medizinische Wüsten« in Frankreich

Nicht nur Ärzte, auch Apotheker klagen über Personal- und Nachfolgermangel

von Ralf Klingsieck, Paris

Auf der Grundlage eines Mitte des Monats veröffentlichten und damit in Kraft getretenen Dekret des französischen Gesundheitsministers sind die Apotheker ab sofort befugt, an Stelle eines Arztes sämtliche Arten von Impfungen vorzunehmen und nicht mehr nur die jährliche Grippeschutzimpfung. Mit dieser Kompetenzerweiterung wird auf den fortschreitenden Ärztemangel vor allem auf dem Lande reagiert, wo sich immer weniger junge Nachwuchsmediziner niederlassen wollen, um die in die Rente gehenden alten Ärzte abzulösen, und wo dadurch regelrechte »medizinische Wüsten« entstehen.

11 Prozent ohne Hausarzt

Laut offiziellen Angaben haben dadurch heute bereits 11 Prozent der Franzosen keinen Hausarzt mehr. Doch es mangelt nicht nur an Ärzten, sondern inzwischen auch an Apothekern. »Es ist ja schon seit Jahren schwieriger geworden, qualifiziertes Personal zu finden, aber seit der Corona-Pandemie ist es katastrophal«, sagt die 68-jährige Brigitte Boyer, die Apothekerin in der Kleinstadt Donzère im südostfranzösischen Departement Drôme ist. »So etwas habe ich in 30 Jahren Berufspraxis nicht erlebt. Früher blieb eine neue Stelle nie länger als einen Monat vakant, jetzt suche ich seit eineinhalb Jahren vergebens einen Stellvertreter. Da ich keinen finde, muß ich die Öffnungszeiten radikal kürzen.«

Vielerorts mußten in diesem Sommer Apotheken während des Jahresurlaubs des Inhabers und der Mitarbeiter komplett schließen, weil man nicht wie in früheren Jahren für diese Zeit Vertreter fand.

15.000 Fachkräfte fehlen

»Der Personalnotstand in unserer Branche wird immer schlimmer«, erklärt Christophe Le Hall, Präsident der Nationalen Apotheker-Union. Nach seinen Angaben fehlen landesweit bereits 15.000 Apotheker oder pharmazeutisch-kaufmännische Angestellte (PKA) und pharmazeutisch-technische Assistenten (PTA). Oft kann ein Apotheker, der in Renten gehen will, keinen Nachfolger finden, selbst wenn er seine Offizin nicht verkaufen, sondern kostenlos übergeben will, um seine langjährigen Kunden nicht im Stich zu lassen.

Vor allem aufs Land, in Dörfer oder Kleinstädte kann man immer seltener Berufseinsteiger locken. Denen ist die Umgebung meist zu langweilig. Außerdem wurden in den zurückliegenden Jahren an den französischen Universitäten deutlich weniger Apotheker ausgebildet als nötig gewesen wären, um die Nachfolge zu sichern. Der ohnehin schon nicht einfache Studiengang wurde durch ein besonders strenges Auswahlverfahren unattraktiv gemacht.

1.740 Apotheken geschlossen

Außerdem haben die Branchenorganisationen bisher kaum in der Öffentlichkeit für diesen Beruf geworben. Dabei ist er mit einem durchschnittlichen Monatseinkommen von 7.700 Euro netto zumindest finanziell durchaus attraktiv.

Aus all diesen Gründen mußten in den vergangenen zehn Jahren 1.740 Apotheken geschlossen werden, so daß ihre Gesamtzahl von knapp 26.000 auf kaum mehr als 24.000 sank.

Personalprobleme haben auch die Überseedepartements in der Karibik, obwohl dort die Arbeitszeit geringer und das Klima angenehmer ist als in Europa, und meist ein überdurchschnittliches Gehalt, eine mietfreie Dienstwohnung und ein kostenloser Flug pro Jahr nach Frankreich und zurück angeboten werden.

Wo sind die Apotheker oder Apothekenmitarbeiter geblieben? »Wie in vielen Berufen, so hat es auch bei uns durch die Corona-Pandemie vor allem unter den jüngeren Generationen erhebliche Veränderungen in der Haltung zur Arbeit, zum Leistungsdruck, zum Verhältnis von Arbeitszeit und Zeit für die Familie gegeben«, sagt Pierre-Olivier Variot, der Vorsitzende der Union des syndicats de pharmaciens d’officine (USPO). »Vor allem das Arbeiten in den Abendstunden oder am Wochenende wird immer weniger akzeptiert.«

Außerdem gebe es den Trend, kein festes Arbeitsverhältnis einzugehen, sondern sich dank der zahlreichen Stellenangebote »mit befristeten Arbeitsverträgen durchs Land zu jobben«, wie die im wenig attraktiven Nordfrankreich geborene und ausgebildete Diplom-Apothekerin Emmanuelle Richard meint, »und so immer neue Gegenden, Orte und Menschen kennenzulernen«.

5.000 Apotheker kurz vor dem Rentenalter

Viele Apotheker versuchen jetzt, mit dem vorhandenen Fachpersonal auszukommen und es für die Beratung der Kunden disponibel zu halten, indem für Hilfsarbeiten wie das Nachfüllen der Bestände und die Warenwirtschaft, wo kein Kontakt zu den Kunden besteht und keine medizinischen oder pharmazeutischen Kenntnisse erforderlich sind, berufsfremde Mitarbeiter eingestellt und vor Ort angelernt werden.

Die Zukunft sieht düster aus, denn rund 5.000 Apotheker stehen kurz vor dem Rentenalter und finden keinen Nachfolger. Darum fordern jetzt die Branchenvereinigungen von der Regierung, die Zulassungsvorschriften für ausländische Apotheker oder pharmazeutische Mitarbeiter zu lockern, indem in Frankreich der Berufs- oder Studienabschluß aus deutlich mehr Ländern als bisher anerkannt wird.