Ausland14. Januar 2010

Armenhaus mit Einsturzgefahr

Schwindende Rohstoffe, Schulden, Korruption und Wassermangel treiben den Jemen Richtung Abgrund

Jahrelang im toten Winkel liegend, ist der Jemen im Rahmen des von den USA ausgerufenen »Krieges gegen den Terror« unversehens ins Rampenlicht geraten. Wichtige Stützpunkte der Al Qaida glauben Washington und seine Verbündeten im Südwesten der arabischen Halbinsel ausgemacht zu haben, und sie bringen bereits ihre Militärmaschine in Stellung, um das Problem zu »lösen«.

Daß die Islamische Präsidialrepublik Jemen ein »politisches Sorgenkind« geworden ist, hat in erster Linie soziale Ursachen. Laut UNO zählt das Land mit einem kaufkraftbe-reinigten Bruttoinlandsprodukt von 2.300 Dollar (1.600 Euro) pro Kopf zu den dreißig ärmsten Staaten der Welt. Knapp die Hälfte der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, das heißt von weniger als 2 US-Dollar am Tag.

Die Kindersterblichkeit ist mit 10 Prozent extrem hoch und die allgemeine Lebenserwartung beträgt gerade mal 60 Jahre. Kein Wunder: Letzten Zahlen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge kommen auf Zehntausend Einwohner nur drei Ärzte und sechs Krankenhausbetten. Impfstoffe kann sich kaum jemand leisten. Ähnlich katastrophal ist die Situation im Bildungswesen. Trotz formeller Schulpflicht lag die Analphabetenrate 2005 bei knapp 50 Prozent. Nur ein Drittel der Kinder besucht mehr als die Grundschule. Eine Folge einerseits der Gebühren von 10 Dollar pro Jahr und andererseits des Zwangs zum Einkommenserwerb.

Rückständige Ökonomie und Rohstoffabhängigkeit

Das mäßige Wachstum von durchschnittlich vier Prozent seit 2000 reicht angesichts der Bevölkerungsexplosion (+ 3 Prozent pro Jahr) nur zu einer Stagnation des Lebensstandards. Dabei lebt das Land sogar noch über seine Verhältnisse. Zwischen 4,3 und 7,0 Prozent des BIP schwankte das Leistungsbilanzdefizit in den letzten drei Jahren.

Größtes Problem des Jemen ist seine rückständige Ökonomie und Rohstoffabhängigkeit. Die Förderung der Bodenschätze trägt 43,4 Prozent zum BIP bei, Agrarsektor und verarbeitendes Gewerbe hingegen nur 7,2 beziehungsweise 7,5 Prozent.

Doch die bescheidenen Ölvorräte gehen zu Neige. Lag die Produktion zu Beginn des Jahrzehnts noch bei 430.000 Barrel am Tag, so sind es heute nur noch 280.000 Barrel. Zwar hat die Fertigstellung der Erdgasverflüssigungsanlage in Balhaf im November einen kleinen Ausgleich geschaffen, doch werden auch diese Vorkommen in zehn bis fünfzehn Jahren verbraucht sein und bis dahin nur wenig Geld bringen. Das prowestliche Regime von Staatspräsident Ali Abdullah Saleh war der französischen Total und der südkoreanischen KNPC gegenüber eine langfristige Lieferbindung zu niedrigen Gaspreisen eingegangen.

Desaströs ist auch die Lage in der Landwirtschaft: Obwohl dort sechs von zehn Jemeniten arbeiten und 80 Prozent des Wassers verbrauchen, müssen drei Viertel der Lebensmittel importiert werden. Vor einigen Jahrzehnten war das Land noch Selbstversorger. Ursache dieser dramatischen Veränderung ist der immer weiter um sich greifende Anbau der Volksdroge Qat, die zwar einen Großteil der 24 Millionen Einwohner ruhig stellt, aber kein Devisenbringer ist und Kaffee, Weizen und Hirse zunehmend verdrängt. Ähnlich unproduktiv ist der Fischfang, da die einheimischen Fischer nur über kleine Boote verfügen und das Arabische Meer derweil illegal von ausländischen Flotten leergefischt wird.

Glänzende Vergangenheit

Das war nicht immer so. Nur wenige Länder der Welt verfügen über eine so glänzende Vergangenheit. Die Stadt Aden wird bereits im Alten Testament erwähnt. Sie war eines der Zentren des westarabischen Gewürzhandels. Etwa 900 vor unserer Zeitrechnung lebte mit den Sabäern ein technisch hoch entwickeltes Volk im Jemen, das es durch die Produktion von Weihrauch und Myrrhe zu legendärem Reichtum brachte.

Reiche gibt es auch heute im Jemen, allerdings nur wenige. Die Immobiliengesellschaft Diar aus dem Golfstaat Katar investiert derzeit 600 Millionen Dollar in den Bau von 170 Luxusvillen auf den Rayyan Hills in der Hauptstadt Sanaa. Bezeichnenderweise ist dies aktuell das größte Infrastrukturvorhaben im Land und die frappierende Ähnlichkeit zum Kabuler Villenquartier Sherpur, in dem die neue afghanische Elite ihren Reichtum zur Schau stellt, kein Zufall.

Zwei Milliarden Dollar »Handgeld« hatte das saudische Königshaus Staatschef Saleh im Herbst zukommen lassen, um den Aufstand der Houthi-Rebellen an der gemeinsamen Grenze zu ersticken, und auch beim Ergasdeal mit Total und KNPC kam die herrschende Oberschicht auf ihre Kosten. Die Konzession der texanischen Ölfirma Hunt Oil für den »Block 18« wurde annulliert und einer Ölgesellschaft übertragen, die dem Saleh-Clan gehört.

Präsident Ali Abdallah Saleh verfolge eine miserable Wirtschaftspolitik, erklärte Professor Mohammed Jubran von der Universität Sanaa im Gespräch mit dem Schweizer Radio DRS. Er und seine Getreuen bildeten eine Lobby, mit dem Zweck, sich zu bereichern – zum Beispiel, indem sie subventionierten Diesel im Jemen billig auf- und im Ausland teurer verkauften.

Die Chefredakteurin der »Yemen Times«, Nadja al-Saqqaf, spricht gar von einer Machtmafia: Ein und dieselbe Person sei oftmals Politiker, Stammeschef, religiöser Führer und Geschäftsmann zugleich. Solche Potentaten könnten sich fast alles erlauben. Es sei riskant, diese Leute zu kritisieren.

Formal wurde zwar 2006 – unter dem Druck der UNO und der Geberländer – ein Antikorruptionsgesetz verabschiedet und 2007 gar eine Antikorruptionsbehörde geschaffen. Mehr als 500 Anzeigen von Bürgern soll diese bisher bearbeitet haben. Ein Täter wurde allerdings noch nicht verurteilt. Das sei halt ein langer Prozeß, meint die stellvertretende Behördenchefin Bilkis Ahmed Abuosba.

Raoul Rigault