Ausland27. April 2022

Gegen die »amtlichen Lügennetze«

Die USA und der Ukraine-Krieg: Fortschrittliche Kräfte von Indigenen, Afroamerikanern und Latinos zeigen Widerstand

von Jürgen Heiser

Am Ostermontag hat die US-amerikanische Tageszeitung »New York Times« (NYT) ihren »The Morning« genannten täglichen Frühappell an ihre Online-Leserschaft mit der Bemerkung eingeleitet, wer in der Mehrheit der westlichen Länder lebe, könne angesichts der Unterstützung seiner Regierung für die Ukraine, einschließlich der Lieferung von Waffen und der Verhängung von Sanktionen gegen Rußland, den Eindruck gewinnen, es gebe »eine geeinte globale Reaktion auf Wladimir Putins Invasion«. Doch das sei »gar nicht der Fall«, mußte »NYT«-Autor Ian Prasad Philbrick einräumen, denn: »Die meisten der 195 Länder der Welt« würden »weder Hilfsgüter an die Ukraine liefern noch sich den Sanktionen anschließen«. Eine »Handvoll Länder« unterstütze die Russische Föderation sogar »aktiv«.

Weitaus mehr Länder bilden indes mit ihrer Haltung zum Konflikt das, was Carisa Nietsche von der US-amerikanischen Denkfabrik »Center for a New American Security« als »Messy middle« bezeichne – die »chaotische Mitte«, die sich »weder auf die ukrainische noch auf die russische Seite« stelle. Sie folgten »eigenen Interessen«, so Philbrick. »Wir leben hier in den USA und in Europa in einer Blase, in der wir glauben, daß das, was auf dem Spiel steht, moralisch und geopolitisch eine universelle Sache« sei, zitierte er sodann Barry Pavel, den Vizepräsidenten der Denkfabrik »Atlantic Council«, der räsonierte: »Tatsächlich sind die meisten Regierungen der Welt nicht auf unserer Seite.«

Doch auch im Innern der »Blase« wollen im USA-Imperium nicht alle mitspielen. Da herrscht kein »geeintes« Handeln vor. Im Gegenteil. Auch wenn in den USA wie in Europa sogar altgediente pazifistische und linke Gruppen vor der antirussischen Propaganda kapitulieren und ihre Köpfe in den Sand stecken, vertiefen sich in der aktuellen Situation Widersprüche entlang alter Konfliktlinien der US-Gesellschaft.

Die »NYT« verliert jedoch kein Wort darüber, daß es fortschrittliche Kräfte der indigenen, afroamerikanischen und hispanischen Teile der Bevölkerung sind, die nicht mitmachen beim verordneten Burgfrieden. Sie wissen aus eigener Erfahrung, daß »der Hauptfeind im eigenen Land steht«, wie Karl Liebknecht im Mai 1915 angesichts der »amtlichen Lügennetze« im Ersten Weltkrieg betonte.

Die Unabhängigkeitsbewegung der USA-Kolonie Puerto Rico hält Washington wegen seiner skrupellosen politisch-militärischen Unterstützung der »Souveränität der Ukraine« den Spiegel vor. »Seit Jahrzehnten fordern die Vereinten Nationen, Puerto Rico endlich seine Souveränität zu gewähren«, empörte sich Hector Luis Alamo, Chefredakteur des Onlineblogs »Latino Rebels«. Jedoch habe es keine USA-Regierung bislang für nötig gehalten, darauf zu reagieren. Auch die amtierende sei »nur eine andere Sorte Cop, der glaubt, er stehe über dem Gesetz und den Menschenrechten«.

Die puertoricanische Bevölkerung auf der Insel und im Exil in den USA eint mit der afroamerikanischen ihre Erfahrung von sozialer Unterdrückung und politischer Rechtlosigkeit. Bereits zu Zeiten des Vietnamkrieges, der blutigen, von den USA gestützten Militärdiktaturen in Lateinamerika und des Beginns der brutalen Blockade der USA gegen das sozialistische Kuba stammte die gesellschaftliche Avantgarde der antiimperialistischen Kämpfe der Antikriegs- und Bürgerrechtsbewegung aus ihren Reihen.

Da wundert es nicht, daß die »Black Alliance for Peace« (BAP) bereits am 12. Januar 2022 zu dem Schluß kam, »daß die gefährliche Krise in der Ukraine von der illegalen Politik der ›Achse der Dominanz‹ aus USA, EU und NATO« zu verantworten» sei. Schon Wochen vor der militärischen Eskalation vertrat die Allianz die Position, »die einseitige Darstellung der Ereignisse in der Ukraine« sei »Teil einer massiven Propaganda der Konzernmedien und der Biden-Regierung«. Demgegenüber müsse »die Öffentlichkeit über die tatsächliche Chronologie der Ereignisse seit dem von den USA geförderten rechten Maidan-Staatsstreich aufgeklärt werden«.

Im Januar verpflichtete sich die BAP, »gegen die Politik der USA aufzutreten«, weil, wie es Martin Luther King vor mehr als 50 Jahren angesichts des Vietnamkriegs und zahlreicher Interventionen zum ersten Mal ausgesprochen habe, nach wie vor »die USA der größte Verursacher von Gewalt in der Welt« seien.

Nach dem Einmarsch Rußlands trat die Friedensallianz am 1. März erneut mit einer »Erklärung zur Situation in der Ukraine« an die Öffentlichkeit und wandte sich ausdrücklich an die »afrikanischen und kolonisierten Völker«. Um die Bedeutung der Vorgänge zu verstehen, müsse »nicht Europa, sondern der Imperialismus in den Mittelpunkt gestellt« werden.

Seit dem Beginn der NATO-Erweiterung bis an die Grenze der Russischen Föderation habe die Ukraine »zu einem schwerbewaffneten NATO-Mitgliedstaat aufgebaut« werden sollen. Indem der Konflikt heute global eskaliere, werde die NATO-Erweiterung »zu einer existentiellen Bedrohung für die afrikanischen und alle kolonisierten Völker» der Welt.

Als Beispiel attackierte die BAP die Doppelmoral der USA-Regierung: Sie habe am 24. Februar »das militärische Vorgehen Rußlands in der Ukraine scharf verurteilt, während sie am selben Tag mit bewaffneten Drohnen Somalia bombardieren« ließ – ein Land, das in den vergangenen 30 Jahren durch die USA-Angriffe eine Viertelmillion Tote und drei Millionen Vertriebene zu beklagen hat.

»Um Frieden in der Region und in der Welt zu schaffen«, so die »Black Alliance for Peace«, müsse »die Stärkung dieser ›Achse der Dominanz‹ gestoppt und die NATO aufgelöst« werden.