Leitartikel07. September 2021

Kopfgeld auf Abtreibungsärzte

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Für den 2. Oktober mobilisieren in den USA mehr als 90 feministische Organisationen für landesweit organisierte Manifestationen in allen 50 Hauptstädten der Bundesstaaten, um das Recht der Frauen auf Schwangerschaftsabbruch zu verteidigen.

In der vergangenen Woche hatte es der oberste Gerichtshof der USA abgelehnt, im Bundesstaat Texas das Inkrafttreten des landesweit reaktionärsten Abtreibungsrechts zu stoppen.

In Texas sind Schwangerschaftsabbrüche nun ab dem Zeitpunkt verboten, zu dem der Herzschlag des Fötus festgestellt werden kann, also etwa ab der sechsten Woche. Bis zu diesem Zeitpunkt wissen jedoch viele Frauen noch nicht einmal, daß sie schwanger sind: Nach Angaben der Amerikanischen Bürgerrechtsunion ACLU wurden in Texas bisher 85 bis 90 Prozent der Abbrüche nach der sechsten Schwangerschaftswoche vorgenommen.

Selbst für Frauen, die eine Vergewaltigung oder Inzest überlebt haben, sieht das neue Gesetz keine Ausnahmen vor. Wie reaktionär die »Senate Bill 8« ist, zeigt sich in der nicht zufällig an die Sklaverei in den USA erinnernde Auslobung eines Kopfgelds in Höhe von 10.000 US-Dollar auf Frauen, die nach der sechsten Woche abgetrieben haben sollen, oder Ärzte und medizinisches Personal, das ihnen dabei geholfen haben soll. Zahlten die Großgrundbesitzer für auf ihre Plantagen zurückgebrachte entlaufene Sklaven noch selbst, sind die 10.000 US-Dollar vom Verurteilten an den Denunzianten zu entrichten.

Um zu verstehen, was das neue Abtreibungsrecht gerade in Texas anrichtet, muß man wissen, daß der Bundesstaat schon seit Jahren die USA-weit höchste Rate nicht sozialversicherter Menschen aufweist und die texanische Regierung es dennoch weiter ablehnt, Bundesgelder für Nichtsozialversicherte wie »working poor«, Behinderte oder Alleinerziehende aus dem »Afforrable Care Act« abzurufen.

Vor Texas hatte bereits ein Dutzend anderer Bundesstaaten ähnlich scharfe Abtreibungsgesetze beschlossen. Sie wurden aber allesamt wieder von Gerichten kassiert, weil sie im Widerspruch zu einem Grundsatzurteil des Supreme Court aus dem Jahr 1973 stehen. In dem Urteil »Roe gegen Wade« hatten die Verfassungsrichter Abbrüche bis zum sechsten Monat der Schwangerschaft legalisiert.

Auch hierbei sind die gesellschaftlichen Zustände in den USA Anfang der 70er Jahre aufschlußreich. Denn genau wie heute war auch der Supreme Court, der über »Roe gegen Wade« zu urteilen hatte, nach der ersten Amtszeit von USA-Präsident Nixon mit äußerst reaktionären Richtern besetzt.

Der entscheidende Unterschied zu heute war die damals starke Frauen- und Bürgerrechtsbewegung in den USA, die es mit Massendemonstrationen und neuen Protestformen vermochte, eines der bis heute fortschrittlichsten Urteile des obersten Gerichts der USA durchzusetzen. 1973 wurde erkämpft, daß jede Frau selbst über ihr Reproduktionssystem entscheiden kann – und nicht die gerade den Ton angebende Kirche oder der Staat.

Wenn verhindert werden soll, daß sich weitere Bundesstaaten der USA Gesetze geben, die die Grundsatzentscheidung von 1973 durch die Hintertür ad absurdum führen, dann bedarf es nicht weniger als einer multiethnischen und generationenübergreifenden Massenbewegung wie Black Lives Matter. Die Zeit drängt: Bereits für den Herbst plant Mississippi die Verabschiedung eines ähnlich restriktiven Abtreibungsrechts wie in Texas.