Das Kalifat zerfällt
Syrische Armee setzt nach Rückeroberung von Palmyra Angriffe auf »Islamischen Staat« fort. Russische Luftunterstützung bei Offensive entscheidend
Als der »Islamische Staat« (IS) im vergangenen Mai die Wüstenstadt Palmyra quasi im Handstreich eroberte, war die Welt fassungslos vor Schreck : Wer konnte die Dschihadisten stoppen ? Unbezwingbar schienen sie. Höhnisch schickte der IS nach dem Sieg seine grausamen Botschaften aus Palmyra um den Globus. Im Amphitheater ließ er auf der Bühne Gefangene erschießen oder köpfen. Medienwirksam zerstörten die Fundamentalisten nach und nach antike Tempel und Torbögen, deren Existenz sie als Gotteslästerung bezeichneten.
Seit Ostersonntag ist die Schreckensherrschaft des IS über Palmyra beendet. Mit russischer Luftunterstützung gelang es den Regierungstruppen gemeinsam mit den paramilitärischen »Wüstenfalken« und den »Volksmilizen« , die Dschihadisten zu vertreiben. Die Verluste des IS sollen hoch gewesen sein, berichteten Kriegsberichterstatter von der Front. Das Verteidigungsministerium in Moskau trat unterdessen Gerüchten entgegen, an der Eroberung seien auch russische Eliteeinheiten beteiligt gewesen.
Präsident Wladimir Putin war einer der ersten, der am Telefon seinem syrischen Amtskollegen Baschar Al-Assad zum sowohl strategisch als auch symbolisch wichtigen Sieg gratulierte. Assad habe betont, »daß die Erfolge in Palmyra ohne die russische Hilfe unmöglich« gewesen wären, sagte Putins Pressesprecher der Nachrichtenagentur TASS. Rußland wolle Syrien nun auch bei der Minenräumung und der Restaurierung der zerstörten antiken Stätten unterstützen.
Als Moskau im vergangenen September in den Konflikt eingriff, pfiff die syrische Armee aus dem letzten Loch. Den Kämpfern des IS hatten die zunehmend demoralisierten Soldaten kaum noch etwas entgegenzusetzen. Nun, kein Jahr später, sieht die militärische Lage völlig anders aus. Ob im Umland von Damaskus, in der südlichen Provinz Daraa, in Aleppo oder im hügeligen Hinterland von Lattakia – die syrische Armee ist dank der Luftunterstützung aus Moskau an praktisch allen Fronten auf dem Vormarsch. Die momentane Offensive geschieht offenbar in enger Abstimmung mit dem Irak und dem Iran.
Der IS ist schwer angeschlagen, und er wird am Ende sein Kalifat verlieren, daran besteht kein Zweifel mehr. Ein Großteil der schweren Waffen des IS sei mittlerweile zerstört, heißt es aus Moskau. Nachschub ist nicht mehr so einfach zu beschaffen, denn die Kriegskasse der Terrororganisation leert sich offenbar rasant, seitdem Rußlands Kampfpiloten rigoros die Ölkonvois ins Ausland, insbesondere in die Türkei, ins Visier genommen haben. Als Folge soll der IS bereits vor einigen Wochen seinen Kämpfern den Sold erheblich gekürzt haben. Es mehren sich die Gerüchte über Fahnenflucht, Überläufer und kleine, lokale Aufstände. Der Nimbus der Unbesiegbarkeit ist dahin, unter den Dschihadisten machen sich offenbar Zweifel breit.
Die syrische Armeeführung versucht das Momentum zu nutzen. Gleich nach der Befreiung von Palmyra zog ein Teil der Einheiten weiter zur strategisch ebenso wichtigen assyrischen Kleinstadt Karjatain in der Nähe von Homs. Der vom IS gehaltene Ort wird bereits seit Tagen und rund um die Uhr von russischen Jets angegriffen. Beobachter erwarten die Rückeroberung innerhalb der nächsten Tage. Ein Sieg in Karjatain würde den Weg zur syrisch-irakischen Grenze im Süden, deren Übergänge im Moment noch vom IS kontrolliert werden, endgültig freimachen.
Außerdem rücken die Regierungstruppen weiter auf der Hauptverbindungsstraße von Palmyra ins 200 Kilometer entfernte Deir Essor vor. In der Ölmetropole am Euphrat werden etwa 100.000 Einwohner und Soldaten seit zehn Monaten von den Dschihadisten belagert. 45 Kilometer von Palmyra entfernt liegt allerdings erst noch die IS-Hochburg Al-Sukhana mit ihren knapp 20.000 Einwohnern. Die Stadt ist das Zentrum der ölreichsten Region des Landes. Ein Verlust wäre für den IS deshalb fatal. Die ersten Kilometer der stark verminten Straße hat die syrische Armee bereits zurückgelegt.
Gerrit Hoekman
Syrische Soldaten in der vom Kalifat befreiten Stadt Palmyra