Belgiens Schuldenuhr tickt
Unser Nachbar hat einen gewaltigen Berg an Verbindlichkeiten aufgehäuft. Das gefährdet vor allem vermögenslose Menschen und den Staat
Die Zeitung »De Tijd« hat am Dienstag besorgt das Ende der Sondierungsgespräche in Berlin kommentiert. »Düstere Wolken« würden nun über Angela Merkels Zukunft hängen, so das belgische Wirtschaftsblatt. Finsterer als die Zukunft der noch geschäftsführenden deutschen Bundeskanzlerin sieht allerdings die Perspektive für das eigene Land aus. Belgien gilt manchem Beobachter ohnehin als ein »Failed State« , der lediglich durch die EU-und NATO-Hauptquartiere auf seinem Territorium zusammengehalten werde. Deshalb bereitet es vielen Sorgen, daß der Schuldenberg des Landes wächst und wächst.
Nimmt man öffentliche Hand, Unternehmen und Privathaushalte zusammen, beliefen sich die Verbindlichkeiten im vergangenen Jahr auf 296 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt ; BIP). Die waren damit so hoch wie noch nie in der Geschichte des Landes. Das geht aus Zahlen des Statistischen Amts der EU (Eurostat) hervor, über die »De Tijd« bereits am 15. November berichtet hatte. Nur in Portugal und Griechenland wurde ein höherer Fehlbetrag registriert.
Hinzu kommt, daß die Verbindlichkeiten deutlich schneller steigen als in den meisten anderen Staaten. Besonders das Defizit in den Privatbilanzen macht Ökonomen Sorgen. »Ein übertrieben hoher Schuldenstand des Sektors ist ein großes Risiko für das wirtschaftliche Wachstum und die finanzielle Stabilität« , findet die EU-Kommission, und die rechnet mehr als großzügig und hält ein Schuldenlevel von 133 Prozent des BIP für gerade noch tolerierbar. Belgien liegt klar darüber.
»Der Trend der schnell steigenden Familienschulden darf keine Jahre mehr andauern« , warnte dann auch Bart Van Craeynest vom Vermögensverwalter Econopolis in »De Tijd« . Und es ist keineswegs so, daß die Belgier wie verrückt auf Pump konsumieren : Ein wichtiger Grund für den Anstieg sind nämlich die immer höheren Immobilien- und damit Wohnpreise, für die Familien immer tiefer in die Tasche greifen müssen. Die Preise für Wohnungen sind im ersten Quartal 2017 wieder um 5,5 Prozent gestiegen, im zweiten um weitere 3,5 Prozent.
Die Nationale Bank (Notenbank) in Belgien hat deshalb die Kreditinstitute verpflichtet, einen höheren Kapitalpuffer anzulegen, wenn das für Wohnungskauf aufgenommene Darlehen höher als 80 Prozent des Immobilienwertes ist. Häuslebauer und Wohnungskäufer müssen jetzt mehr Eigenkapital mitbringen, um einen Kredit zu erhalten. Das soll die Stabilität des gesamten Finanzsystems überwachen und sichern helfen.
»Es ist eine gute Sache, daß die Nationale Bank die Regierung anweist, die Regeln für die Kreditvergabe in Form von Hypotheken zu verschärfen, denn die Gefahr einer Blase wird real« , sagte der Ökonom Johan Van Gompel von der KBC Bank gegenüber dem belgischen Magazin »Trends« , wie am Dienstag auf dessen Onlineseite nachzulesen war. Der Immobilienmarkt könnte zerplatzen wie eine Seifenblase, befürchtet er. Van Gompel empfiehlt daher jungen Familien, erst Spargroschen beiseite zu legen und ein eigenes Vermögen aufzubauen, das sie später für den Kauf ihrer Wohnung einsetzen können. Aber was tun, wenn es für das Ersparte so gut wie keine Zinsen mehr gibt und die Inflation das Vermögen anknabbert ?
Entwarnung gibt Ökonom Van Craeynest mit Blick auf die Unternehmensschulden : Die seien »möglicherweise steuerlich bedingt« , zitierte »De Tijd« . Die belgische Regierung habe einige steuerliche Stimuli erlassen, um ausländische Betriebe ins Land zu locken, und »einige davon haben Schulden« . Trotzdem stehe Belgien nicht kurz davor, pleite zu gehen, beruhigt Van Craeynest.
Das liegt nach Ansicht von Philippe Ledent von der ING-Bank daran, daß man Schulden nicht isoliert von den Aktiva betrachten dürfe. »Das Nettovermögen ist am wichtigsten. Da steht Belgien sehr gut da, weil die Aktiva der Familien – Erspartes und Anlagen – viel größer sind als die Schulden.« Das Nettovermögen belaufe sich auf 51 Prozent des BIP. In der Euro-Zone sei das nur in Deutschland und den Niederlanden noch höher. Entwarnung also, was die Gesamtbilanz angeht. Doch das wirklich beängstigende Problem ist : Die Familien mit Krediten sind nicht die Familien mit Spar- und Anlagevermögen. Auch in Belgien besteht eine tiefe soziale Kluft.
Aber die Uhr für den Staat tickt ebenfalls : Dessen Schulden beliefen sich am Dienstag auf insgesamt fast 437 Milliarden Euro – und jede Sekunde kommen laut Schätzungen der Internetseite staatsschuldmeter.be 507 Euro dazu. Das machte pro Kopf am Dienstag 40.473 Euro. Umgerechnet auf die arbeitende Bevölkerung ist es sogar doppelt soviel. Damit liegt die Quote erheblich höher als etwa in Deutschland, wo jeder Bürger mit geschätzt rund 26.000 Euro für die Staatsschulden geradesteht. Richtet man den Blick allerdings über den großen Teich in die USA, ist die belgische Quote gering. Dort hat der Staat sehr konservativ geschätzt deutlich mehr als 50.000 Euro Miese auf die Schultern jedes Einwohners gepackt.
Belgiens Finanzminister Johan Van Overtveldt kündigte Anfang des Monats an, die Staatsverbindlichkeiten unter 100 Prozent des BIP senken zu wollen. Das soll durch den Verkauf von Anteilen an Unternehmen wie der französischen Bank BNP Paribas und dem Versicherungsdienstleister Belfius geschehen, wie »De Tijd« bereits Anfang November vermutete. Damit sollen 13 Milliarden Euro in die Kasse gespült werden.
Gerrit Hoekman