Ausland11. Juni 2009

SS-Mördern auf der Spur

Vor 65 Jahren ermordeten Angehörige der Waffen-SS 642 Einwohner des französischen Dorfes Oradour sur Glane

Oradour sur Glane, rund 20 Kilometer nordwestlich von Limoges gelegen, der Metropole der Re­gion Limousin, war ein Dorf wie viele andere in Frankreich auch. Die relativ große Landgemeinde im Departement Haute-Vienne zählte – ein­schließlich der umliegenden Höfe und Weiler – weit über 1.000 Einwohner, von denen 1944 genau 405 im eigentlichen Dorf gemeldet waren.

Die malerische Umgebung entlang des Flüßchens Glane machte den Ort zudem zu einem beliebten Ausflugsziel, zumal Krieg und faschistische Okkupation die Gegend im Südwesten Frankreichs bis zu jenem 10. Juni 1944 verschont hatten. Keine Spur auch von der Résistance. Dennoch umstellte eine Einheit der Waffen-SS-Division »Das Reich« – auf ihrem Weg nach Norden an die Invasionsfront der alliierten Operation »Overlord« – an jenem Samstag den friedlichen Ort. Im Laufe des Nachmittags durchkämmten SS-Grenadiere Haus für Haus, trieben alle anwesenden Bewohner und Besucher auf die Straßen. Frauen und Kinder wurden in die Kirche gesperrt und dort lebendigen Leibes verbrannt, die Männer in Garagen und Scheunen zusammengetrieben und erschossen. Schließlich wurden alle Gebäude des Ortes in Brand gesetzt. Nicht einmal ein Dutzend Einwohner entging dem Massaker, das insgesamt 642 Todesopfer forderte – 18 Tage das jüngste, 85 Jahre der Älteste.

Prozeß in Bordeaux

Die Mörder von Oradour namhaft zu machen und aufzuspüren, brauchte Jahre. Zufallsfunde im Ort und in der näheren Umgebung wie ein verlorener Feldpostbrief ergaben allerdings bald die Gewißheit, welche Einheit das Massaker von Oradour zu verantworten hat: die 3. Kompanie des 1. Bataillons des Regiments »Der Führer« von der 2. Panzerdivision der Waffen-SS »Das Reich«. Doch erst Ende 1952 konnte Anklage gegen 65 namentlich ermittelte Täter erhoben werden, und am 12. Januar 1953 begann vor einem Militärgericht in Bordeaux der Prozeß gegen 21 Beschuldigte, unter denen sich jedoch nicht ein einziger der verantwortlichen Offiziere befand – weder Zugführer noch Kompaniechef Otto Kahn oder Regimentskommandeur Sylvester Stadler.

Bataillonschef Adolf Dieckmann war im Sommer 1944 in der Normandie gefallen und Divisionskommandeur Lammerding bereits 1951 wegen 99fachen Geiselmordes, begangen am 9. Juni 1944 in der Kleinstadt Tulle, in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Hinter 44 Namen mußte vermerkt werden: »Auf der Flucht«. So saßen auf der Anklagebank in Bordeaux neben einem Oberscharführer (Feldwebel) und zwei Unterscharführern (Unteroffizieren) lediglich »einfache« SS-Männer.

Das Verfahren endete am 13. Februar mit zwei Todesurteilen, Verurteilungen zu Zwangsarbeit bzw. Haftstrafen zwischen fünf und zwölf Jahren sowie einem Freispruch. Die meisten Urteile waren dabei weniger auf den Befehlsnotstand zurückzuführen, den die Angeklagten geltend machten, als auf die Schwierigkeit, ihnen im einzelnen konkrete Taten nachzuweisen; den als Zeugen geladenen Überlebenden des Massakers war es unmöglich, Identifizierungen vorzunehmen – verständlicherweise, denn in ihrer damals empfundenen Todesangst sah ein SS-Mann wie der andere aus. Zwar konnte keiner der Angeklagten bestreiten, in Oradour gewesen zu sein, doch nur die wenigsten bekannten sich schuldig. Die 44 anderen, in Abwesenheit Angeklagten wurden dagegen durchweg für schuldig befunden und zum Tode verurteilt.

Der Fall Lammerding

Einer der Hauptverantwortlichen war SS-Brigadeführer Heinz Lammerding. Der Kommandeur der SS-Division »Das Reich« war 1945 in britische Kriegsgefangenschaft geraten, konnte jedoch bald das Lager verlassen und zunächst untertauchen. In Frankreich seit 1949 auf der Kriegsverbrecherliste und namentlich wegen des Geiselmordes von Tulle gesucht, wurden entsprechende Auslieferungsersuchen von den Behörden der eben gegründeten Bundesrepublik Deutschland jedoch permanent ignoriert. Ende 1952 riet ihm die Rechtsschutzstelle des Auswärtigen Amtes in Bonn von einer Zeugenaussage im Oradour-Prozeß ab, und als die französische Regierung erneut, diesmal bei der britischen Besatzungsmacht in der BRD, um Vollstreckung des Haftbefehls nachsuchte, wurde er abermals gewarnt.

Ende 1954, als mit den Pariser Verträgen das Besatzungsregime in der BRD für aufgehoben erklärt wurde, kehrte Lammerding in seine Geburtsstadt Dortmund zurück, wo er ein eigenes Bauunternehmen eröffnete und sich zugleich beim Aufbau der SS-Nachfolgeorganisation HIAG engagierte. Gedeckt wurden er und seinesgleichen sowohl von der 1952 von Kanzler Adenauer abgegebenen Ehrenerklärung für die Angehörigen der Waffen-SS und nicht zuletzt durch einen Runderlaß des BRD-Justizministeriums vom 5. März 1956, demzufolge »die Bundesregierung ausländische Verurteilungen wegen angeblicher Kriegsverbrechen aus grundsätzlichen Erwägungen nicht anerkennt«.

Wegen der in Frankreich anhaltenden Anklagen gegen den einstigen SS-General sah sich das Landgericht Dortmund Anfang 1962 dennoch zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gezwungen. Doch trotz Prüfung der von Frankreich zur Verfügung gestellten Unterlagen wurde das Verfahren wegen mangelnden Tatverdachts eingestellt – »weil zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine durch Sie begangene strafbare Handlung nicht festzustellen sind«.

Lammerding starb am 13. Januar 1971 als unbescholtener Mann. Die Kränze an seinem Grab zierten u.a. Schleifen der SS-Divisionen »Totenkopf« und »Das Reich«. Ein Trauerredner würdigte den heldenhaften Mut des Verstorbenen als Vorbild für die Jugend: »Sein Vermächtnis erfüllt man am besten, indem man ihm nacheifert.«

Der Fall Barth

In Gegensatz zu diesem »Vorbild für die Jugend« entging ein anderer der Mörder von Oradour seiner gerechten Strafe nicht – in der DDR. Heinz Barth war als Zugführer im Range eines SS-Untersturmführers aktiv an dem Massaker von Oradour beteiligt. Nach dem Krieg gelang es ihm, mit einem gefälschten Lebenslauf, in dem er die Zugehörigkeit zur Waffen-SS verschwieg, in seiner Heimatstadt Gransee bei Berlin unterzutauchen und in seinem erlernten Beruf als Textilkaufmann ein neues Leben zu beginnen, ohne sich dabei jedoch politisch zu engagieren. Der in Frankreich ausgestellte Haftbefehl enthielt in der Personenbeschreibung so vage und auch irreführende Angaben, daß eine Identifizierung auf dieser Grundlage unmöglich schien.

Erst mehr als 30 Jahre nach dem Krieg geriet Barth ins Visier der mit der Verfolgung von Nazi- und Kriegsverbrechen befaßten Organe der DDR-Staatssicherheit. Zunächst wurde – nach einem Amtshilfeersuchen aus der CSSR – gegen ihn wegen des Verdachts auf Beteiligung an Massenerschießungen in der Tschechoslowakei ermittelt. Das Polizeibataillon, dem Barth angehörte, bevor er sich freiwillig zur Waffen-SS meldete, hatte nach dem Attentat von Partisanen auf den »Reichsprotektor für Böhmen und Mähren« Reinhard Heydrich am 27. Mai 1942 wahllos aufgegriffene Zivilisten standrechtlich erschossen. In den folgenden Ermittlungen kam schließlich auch Barths SS-Karriere ans Tageslicht. Er hatte sich im Februar 1943 zur Waffen-SS gemeldet und war im Herbst desselben Jahres zur Panzerdivision »Das Reich« versetzt worden. Im November 1944 wurde er zum Obersturmführer (Oberleutnant) befördert.

Am 14. Juli 1981 wurde Heinz Barth verhaftet. Er war geständig – sowohl, was seine Beteiligung an den Erschießungen in der CSR als auch an der Mordorgie in Oradour sur Glane betraf. Am 24. Mai 1983 begann vor dem Strafsenat I a des Stadtgerichts Berlin die Hauptverhandlung gegen den ehemaligen Offizier der Waffen-SS. Zu dem international Aufsehen erregenden Verfahren – aus der DDR-Hauptstadt berichteten Journalisten aus mehr als einem Dutzend Länder – waren auch Überlebende des Massakers als Zeugen geladen. Am 7. Juni 1983 wurde Barth »wegen mehrfach begangener Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit« zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Vor allem in Frankreich wurde das Urteil mit Genugtuung aufgenommen; es gereiche »den Staatsorganen der DDR, und ganz besonders ihrer Justiz, zur Ehre«, schrieb etwa die »Fédération Nationale des Déportés et Internés Résistants et Patriotes«.

Sieben Jahre nach dem Anschluß der DDR an die Bundesrepublik wurde Heinz Barth, der seit 1990 über seine Anwälte die Kassation des Urteils betreiben ließ, aus der Haft entlassen – aufgrund seines Alters und der angegriffenen Gesundheit. Im selben Jahr, 1997, war ihm nach massiven Protesten eine inzwischen gewährte Kriegsopferrente wieder gestrichen worden; die bisher wegen seiner in Diensten der Waffen-SS erlittenen Verwundung erhaltenen rund 40.000 DM mußte er nicht zurückzahlen.

Vor Gericht hatte Barths Anwalt wiederholt darauf verwiesen, daß die einstigen Vorgesetzten seines Mandanten – gemeint waren neben Lammerding auch Regimentskommandeur Stadler und Kompaniechef Kahn – in der BRD überhaupt nicht verurteilt worden waren und Kahn z.B. ebenfalls neben einer Beamtenpension bis zu seinem Tod im Jahr 1977 zusätzliche Versorgungsleistungen wegen einer Kriegsverletzung erhalten hatte.

Peter Rau, Berlin