Ausland

Haussegen hängt schief

EU-Gipfel : Streit über Beitritte, Haushalt und Ankaras Krieg in Syrien. Lediglich Einigung auf »Brexit« -Abkommen

Die Korrespondenten hatten nichts Erbauliches zu vermelden : »Stillstand« , »keine gemeinsame Position« , »erhebliche Differenzen« . Mit diesen und ähnlichen Begriffen hantierten sie, als sie aus Brüssel über den Verlauf des EU-Gipfels am Donnerstag und Freitag berichteten. Wichtige Themen standen auf der Tagesordnung, darunter eine mögliche neue EU-Erweiterungsrunde, der EU-Haushalt, die EU-Reaktion auf den türkischen Überfall auf Nordsyrien – und um alles gab es Streit. Als Ursula von der Leyen, die designierte Kommissionspräsidentin, um zwei Uhr in der Nacht zu Freitag das Brüsseler Ratsgebäude verlassen habe, habe sie nur tief durchgeatmet, sei ins Auto gestiegen und habe sich wegfahren lassen, hieß es – ohne das übliche Lächeln für die Fotografen, ohne ein paar warme Worte für die Reporter, nichts.

Der einzige echte Erfolg, den die Staats- und Regierungschefs der EU verbuchen konnten, war die Einigung auf ein Austrittsabkommen, dasjenige mit Britannien. Ausgerechnet dem Karrieristen Boris Johnson war es am Donnerstag kurz vor Beginn des Gipfels gelungen, der EU mit der Drohung, es notfalls auf einen »harten Brexit« ankommen zu lassen, ein paar entscheidende Zugeständnisse abzutrotzen. Hatte Brüssel zuvor beinhart auf dem »Backstop« bestanden, der Britannien potentiell dauerhaft zur Einordnung in die EU-Zollunion ohne Mitspracherecht und damit zum kompletten Verzicht auf eigenständige Handelsabkommen genötigt hätte, so hat die »Brexit« -Fraktion in den britischen Eliten nun freie Bahn für den Abschluß aller Freihandelsverträge, die sie wünscht. Hätte der »Backstop« die Regeln für den irisch-nordirischen Handel gleichfalls dauerhaft festgeklopft, so soll nun alle vier Jahre in Nordirland über sie »demokratisch abgestimmt« werden.

Daß Johnson es schaffte, die EU zum Nachgeben zu zwingen, läßt erahnen, woher der Unflat kam, den die kontinentalen Medien über ihn ergossen. Er mag es verdient haben – nur : Das haben zahllose andere, die zumeist völlig ungeschoren davonkommen, auch.

Immerhin haben die Staats- und Regierungschefs der »EU-27« noch ihre vielleicht letzte Chance genutzt, mit Hilfe der britischen »Remainer« den Austritt zu sabotieren : Sie schlugen Johnsons Bitte ab, eine erneute Verschiebung des Austrittsdatums über den 31. Oktober hinaus auszuschließen. Hätten sie dies getan, hätte das britische Unterhaus am Samstag und erneut am Montagabend vor der Entscheidung gestanden, dem neuen Deal zuzustimmen oder zwangsläufig, mangels Alternative, einen »harten Brexit« einzuleiten. In dieser Situation hätte eine breite Zustimmung für den Deal als sicher gelten können. So aber blieb immer noch die Möglichkeit offen, einen erneuten Aufschub zu beantragen und es quasi in letzter Sekunde eventuell doch noch mit einer Wiederholung des Referendums zu versuchen – dem Rezept, das die EU in Irland mehrmals angewandt hat, und zwar mit Erfolg. Der scheidende EU-Ratspräsident Donald Tusk konnte sich einen letzten Eintrag ins Poesiealbum der britischen EU-Anhänger nicht verkneifen : »Unsere Tür wird immer offen sein.« 

Nicht offen ist die Tür der EU hingegen für Nordmazedonien und Albanien : Frankreich, Dänemark und die Niederlande stellten sich einer Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit den beiden Ländern in den Weg. Die Hauptursache liegt in deutsch-französischen Machtkämpfen. Albaniens Ministerpräsident Edi Rama konstatierte denn auch zutreffend, die Blockade gegenüber seinem Land sei ein »Kollateralschaden« eines internen Führungsstreits in der Union. Besonders schwer trifft die Blockade die Regierung Nordmazedoniens. Sie hatte eine auch in der eigenen Bevölkerung heftig kritisierte Umbenennung ihres Landes durchgesetzt, um den Beitritt zur NATO und zur EU zu ermöglichen.

Das war mit drastischer Einmischung des Westens und mit Mitteln, die in anderen Fällen als schwere Korruption aufs Schärfste angeprangert worden wären, unter großen Mühen gelungen. Nun zeigt sich jedoch : Was die EU betrifft, waren Skopjes Mühen umsonst.

Keine Entscheidung fällten die EU-Staats- und Regierungschefs, wie zu erwarten, auch in Sachen EU-Haushalt. Die Kommission will ihn aufstocken, um die ehrgeizigen weltpolitischen Ziele des Staatenkartells realisieren zu können ; darum gibt es allerdings Streit. Realisten vermuten, die Entscheidung werde wie üblich erst in letzter Sekunde gefällt, also unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020.

Ebenfalls mickrig fiel die Reaktion der Union auf den Überfall der Türkei auf Nordsyrien aus. Vollmundig forderte der EU-Gipfel ein vollständiges Ende der türkischen »Intervention« , einen Truppenabzug sowie die Einhaltung des humanitären Völkerrechts. Mögliche Sanktionen, wie sie ursprünglich Frankreich verlangt hatte, waren vom Tisch. Deutsche Regierungskreise hatten bereits vorab bekräftigt, aus ihrer Sicht existiere das Thema Sanktionen auf EU-Ebene nicht. Berlin hatte bereits sein angebliches Waffenembargo gegen Ankara so geschickt formuliert, daß nur die Neugenehmigung von Rüstungsexporten unzulässig ist, und auch das nur dann, wenn die betreffenden Waffen in Nordsyrien eingesetzt werden können. Allen anderen Lieferungen steht nichts im Weg.

Jörg Kronauer

Kommissionschef Juncker und Ratspräsident Tusk sind nicht amüsiert (Foto : AFP)