EU: Dumpinglöhne als Kostenvorteil
Als die konservativen britischen Tories am Montag zu ihrem Kongreß in Manchester zusammenkamen, sahen sie sich mit protestierenden Schweinezüchtern konfrontiert. Der Mangel an Metzgern zwinge sie, gesundes Schlachtvieh zu »keulen« und zur Tierkadaververwertung zu bringen, weil sie die Tiere nicht zum Schlachthof bringen oder weiter in ihren überfüllten Betrieben halten können.
Besonders auffällig ist der Facharbeitermangel im britischen Transportsektor. Daß nach offizieller Darstellung 100.000 Lkw-Fahrer fehlen, betrifft nicht nur die Belieferung von Tankstellen und Supermärkten, sondern auch die Industrie. Zwar konnten im ersten Coronajahr 2020 aufgrund des Lockdowns in Britannien rund 25.000 Lkw-Fahrprüfungen weniger abgelegt werden als 2019, die Hauptursache für den Fachkräftemangel aber sind die vor allem Jüngere abschreckenden miserablen Arbeitsbedingungen: Das Durchschnittsalter britischer Lkw-Fahrer wird mittlerweile mit 55 Jahren angegeben.
Nicht zuletzt wirkt sich auch der Brexit aus: Ende März waren in Britannien mehr als 16.000 Lkw-Fahrer aus EU-Europa weniger registriert als ein Jahr zuvor. Die als EU-Staat bestehende Option, Nachschub aus Ost- und Südosteuropa anzuwerben, ist entfallen.
Die Haupthindernisse beim Anwerben neuer Fahrer – niedrige Löhne und miese Arbeitsbedingungen – bestehen jedoch auch und gerade in EU-Europa. So sind Lkw-Fahrer oft monatelang von ihren Familien getrennt, müssen ständig Überstunden machen und in ihren Fahrzeugen übernachten.
Hinzu kommen Zeitdruck, gesetzeswidrige Ausbeutungspraktiken der Speditionen sowie unzulängliche gesetzliche Rahmenbedingungen bei einer gleichzeitig mehr als laschen Durchsetzung geltender Gesetze mittels Kontrollen. So werden überlange Arbeitszeiten immer noch durch Manipulationen an den Tachometern verschleiert und allzu oft nicht aufgedeckt.
Verantwortlich für die Aufrechterhaltung von Dumpinglöhnen und miserablen Arbeitsbedingungen durch das Patronat ist in erster Linie die EU, die von einer »Harmonisierung der Lebensverhältnisse« innerhalb des Staatenbundes nur in Sonntagsreden spricht. In Verbindung mit dem »Binnenmarkt« und der darin herrschenden »Arbeitnehmerfreizügigkeit« gibt das Wohlstandsgefälle dem Patronat im Westen und Norden der EU die Möglichkeit, in steigendem Maß auf Dienstleistungen von Speditionen mit Sitz in Ost- und Südosteuropa zurückzugreifen, weil die Löhne und die »Lohnnebenkosten« dort erheblich niedriger sind.
Auch hat man es in Westeuropa ansässigen Speditionen erlaubt, Filialen in den östlichen und südöstlichen EU-Staaten zu gründen. Eine im Auftrag der EU erstellte Studie beziffert den »Kostenvorteil« dort ansässiger Fahrer auf »mehr als 170 Prozent«.
Insofern hat Britannien mit dem Brexit auch Abschied vom Niedriglohnimport aus Ost- und Südosteuropa genommen. Das Land steckt nun in einer Übergangskrise, von der noch nicht klar ist, wohin sie führt. Bereits Anfang Juli berichtete die BBC jedenfalls, erste britische Speditionsunternehmen böten ihren Fahrern »freiwillig« deutliche Lohnerhöhungen an.
Für die britischen Trucker hat der Brexit also auch sein Gutes, weil sie beim Verkauf ihrer Arbeitskraft nicht mehr mit Fahrern aus EU-europäischen Ländern konkurrieren müssen, deren Mindestlohn bei zwei Euro pro Stunde liegt.