Weltordnung des Kalten Krieges
Hilfen für ein kapitalistisches Europa. Vor 75 Jahren wurde der Marshallplan verabschiedet
Mit einem folgenschweren Doppelschlag schlugen die Vereinigten Staaten von Amerika in der ersten Jahreshälfte 1947 entscheidende Pflöcke in die entstehende Weltordnung des Kalten Krieges ein. Am 12. März erklärte USA-Präsident Harry S. Truman in einer Ansprache vor dem Kongreß, die USA würden künftig »allen freien Völkern« beistehen, die sich fremdem Druck widersetzten. Mit der Kampfansage an die Sowjetunion und mit ihr verbündete Staaten und kommunistische Bewegungen war die Truman-Doktrin geboren. Nur wenig später folgte die ökonomische Ergänzung für den Systemkampf speziell in Europa: der Marshallplan.
Was die Lage in Europa und nicht zuletzt in den vier deutschen Besatzungszonen anbelangte, gab es im Washingtoner State Department unter Außenminister George C. Marshall im Frühjahr 1947 ernste Sorgen. Da war zum einen die Tatsache, daß es in der deutschen Bevölkerung starke Sympathien für die Verstaatlichung zumindest der Schlüsselindustrien gab.
Am 1. Dezember 1946 hatten bei einem Referendum in Hessen 72 Prozent dafür gestimmt, den Bergbau und die Eisen- und Stahlindustrie in gesellschaftliches Eigentum zu überführen, und selbst die CDU erklärte am 3. Februar 1947 in ihrem Ahlener Programm, das kapitalistische Wirtschaftssystem müsse überwunden werden.
Hinzu kam, daß der Hungerwinter 1946/47 die sozialen Spannungen verschärfte. Auf europäischer Ebene kam bei gleich mehreren sozialdemokratischen Parteien der Gedanke in Mode, Europa solle sich politökonomisch als »dritte Kraft« zwischen kapitalistischem Westen und sozialistischem Osten positionieren. Und konnte man sicher sein, daß nicht auch der Einfluß der Sowjetunion in Europa wuchs?
Gegen die Sowjetunion
George C. Marshall, am 21. Januar 1947 in sein neues Amt gelangt, kam zu dem Schluß, es müsse etwas geschehen, und zwar schnell. Die Grundgedanken dessen, was ihm vorschwebte, trug er am 5. Juni 1947 in einer gut zehnminütigen Rede an der Harvard University in Cambridge vor. Die USA, erklärte er, würden um ökonomische Hilfen für das kriegszerstörte Europa nicht herumkommen. Ziel müsse der schnelle Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft sein, um »Hunger, Armut, Verzweiflung und Chaos« zu bekämpfen.
Man geht kaum fehl in der Annahme, daß Marshall etwa Sozialisierungsabsichten als Ausdruck von »Verzweiflung und Chaos« ansah. Seine Pläne reichten jedoch über die Abwehr kapitalismuskritischer Stimmungslagen hinaus. Der Außenminister der USA legte Wert darauf, möglichst viele Länder Europas in sein »Programm zum Wiederaufbau des Kontinents« einzubeziehen: Es ging darum, sie zusammenzuschweißen und an die USA zu binden – als ökonomisches Fundament für einen westlichen Block gegen die Sowjetunion.
Was Moskau davon hielt, ist nicht schwer zu erraten. George C. Marshall ging taktisch geschickt vor, lud tatsächlich sämtliche Staaten Europas inklusive der Sowjetunion zu Gesprächen über das »Europäische Wiederaufbauprogramm« (European Recovery Program, ERP) ein – und schob so Moskau die undankbare Rolle des Neinsagers zu.
Die sowjetische Regierung warnte zu Beginn der Gespräche vor den Folgen, die das ERP für die ökonomische und die politische Unabhängigkeit der teilnehmenden Staaten haben werde; sie verabschiedete sich Anfang Juli 1947 aus den Verhandlungen und brachte die Länder in ihrem ost- und südosteuropäischen Einflußbereich dazu, dem USA-Programm trotz der so verlockenden Hilfsgelder fernzubleiben.
Am 22. September 1947 unterzeichneten schließlich 16 Länder den Vertrag über das »Wiederaufbauprogramm«; außer Deutschlands westlichen Besatzungszonen waren es Frankreich, Belgien, die Niederlande und Luxemburg, die drei Länder Skandinaviens sowie Island, Österreich, Italien, Portugal, Griechenland, die Türkei, Großbritannien und Irland.
Mit der Ratifizierung des entsprechenden USA-Gesetzes (Economic Cooperation Act) durch den USA-Kongreß sowie mit seiner anschließenden Unterzeichnung durch Präsident Harry S. Truman am 3. April 1948 trat das ERP, das bald nur noch »Marshallplan« genannt wurde, in Kraft. Von April 1948 bis zum Auslaufen des Programms Ende 1952 flossen beinahe 14 Milliarden US-Dollar nach Europa. Rund ein Viertel davon ging an Großbritannien, ein Fünftel an Frankreich, elf Prozent an Italien, zehn Prozent an die drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands, also die im Entstehen begriffene Bundesrepublik, acht Prozent an die Niederlande. Nach Belgien und Luxemburg gingen insgesamt 777 Millionen Dollar. Geliefert wurden unter anderem Nahrungsmittel, Medikamente, Maschinen und Treibstoffe. Als der Koreakrieg losgebrochen war, gab es auch Geld für die Rüstungsindustrie.
Lukrativer Absatzmarkt
Bei alledem achtete Washington zum einen sorgsam darauf, daß eine gewisse Verflechtung zwischen den europäischen ERP-Staaten entstand. So wurden Länder mit einem Zahlungsbilanzüberschuß veranlaßt, anderen europäischen Staaten wirtschaftlich zur Seite zu stehen. Zum anderen sorgte die USA-Regierung dafür, daß vor allem die Wirtschaft der USA profitierte und auf der anderen Seite des Atlantik einen lukrativen Absatzmarkt erhielt.
So mußte etwa die Hälfte der Güter, die aus den USA nach Europa transportiert wurden, mit Schiffen unter USA-Flagge geliefert werden; Griechenlands Wunsch, wieder Geld mit Tabakexporten nach Deutschland zu verdienen, scheiterte daran, daß Washington selbst gewaltige Mengen Virginiatabak in der Bundesrepublik losschlagen wollte. ERP-Gelder gingen an den US-Konzern Ford, der so seine Werke in Großbritannien modernisieren konnte, sowie an weitere britische Firmen, die damit Aufzüge bei dem US-amerikanischen Konzern Otis einkauften.
Das ERP hat stark dazu beigetragen, den im Westen Europas entstehenden Wirtschaftsblock nicht nur von der Sowjetunion zu trennen und ihn zusammenzuschweißen, sondern ihn auch eng an die Vereinigten Staaten von Amerika zu binden.
»Wirtschaftswunder« für die Ukraine?
Dies übrigens nicht nur ökonomisch, sondern auch ideologisch. Zwar sind sich die Experten nicht so recht einig, wie groß denn der Beitrag des ERP zum wirtschaftlichen Wiederaufstieg Europas und insbesondere der Bundesrepublik wirklich war. In der Propaganda aber – und die ist recht erfolgreich gewesen – wurde der Marshallplan gedanklich mit dem sogenannten »Wirtschaftswunder« verknüpft und ähnlich positiv konnotiert wie die Carepakete.
Daß George C. Marshall am 10. Dezember 1953 in Oslo für die Arbeit am ERP den Friedensnobelpreis entgegennehmen durfte, rundete das Bild ab.
In den USA wird gelegentlich darauf hingewiesen, daß der Marshallplan sich zum Modell für auswärtige Hilfsprogramme späterer USA-Administrationen entwickelt hat und, wenn man so will, noch heute als solches gilt. Nicht umsonst ist, wenn der Westen kriegszerstörte Länder an sich binden will, gern von einem neuen Marshallplan die Rede – zuletzt von einem für die Ukraine.
Rückkehr zu »normalen wirtschaftlichen Verhältnissen«
»Bei der Prüfung der Erfordernisse für den Wiederaufbau Europas wurden die Verluste an Menschenleben, die sichtbaren Zerstörungen von Städten, Fabriken, Bergwerken und Eisenbahnnetzen richtig eingeschätzt, doch wurde es im Laufe der verflossenen Monate offenbar, daß diese sichtbaren Zerstörungen wahrscheinlich weniger folgenschwer sind als die Desorganisation des ganzen Gefüges der europäischen Wirtschaft. (…)
Das wirtschaftliche Gefüge Europas ist während des Krieges vollständig zusammengebrochen. (…)
Logischerweise müssen die Vereinigten Staaten alles, was in ihrer Macht steht, unternehmen, um zu der Rückkehr normaler wirtschaftlicher Verhältnisse beizutragen, denn ohne diese ist eine politische Stabilität und ein gesicherter Friede unmöglich. Unsere Politik richtet sich nicht gegen irgendein Land oder eine Anschauung, sondern gegen Hunger, Armut, Verzweiflung und das Chaos. Ihr Ziel ist die Wiederbelebung einer leistungsfähigen Weltwirtschaft, die das Entstehen politischer und sozialer Zustände, in denen freiheitliche Einrichtungen gedeihen können, ermöglichen soll. (…)
Ich bin davon überzeugt, daß jede Regierung, die am Wiederaufbau mitarbeiten will, die volle Unterstützung der Vereinigten Staaten finden wird. Eine Regierung aber, die darauf hinarbeitet, den Wiederaufbau anderer Länder zu behindern, kann von uns keine Hilfe erwarten. Darüber hinaus müssen Regierungen, politische Parteien oder Gruppen, die das menschliche Elend verewigen wollen, um davon politisch oder sonst wie zu profitieren, mit der Gegnerschaft der Vereinigten Staaten rechnen.«
Aus der Rede von
USA-Außenminister
George C. Marshall
am 5. Juni 1947
an der Harvard University