Der imaginäre »amerikanische Atomschirm für Europa«
Manche europäische Politiker und Experten meinen, es gehe unmissverständlich aus den Erklärungen von Vertretern der Trump-Administration hervor, dass die USA nicht nur nicht bereit seien, der Ukraine irgendwelche Sicherheitsgarantien zu geben, sondern dass sie auch nicht auf einen russischen Angriff auf NATO-Mitglieder wie etwa die baltischen Staaten reagieren würden.
Westeuropäische Verbündete munkeln sogar, die »amerikanische Nukleargarantie« sei nicht mehr glaubwürdig. Sie zeigen sich darob verblüfft, entsetzt, empört. Dabei ist im Grunde genommen alles beim Alten geblieben. Die Drohung mit dem Einsatz des nuklearen Arsenals der USA im Fall eines Angriffs auf europäische Verbündete war nie glaubwürdig – dies allerdings nicht aufgrund von politischen Willenserklärungen, sondern von dem nuklearen Phänomen innewohnenden Gesetzmäßigkeiten. Die USA haben, seit es die NATO gibt, und unter jeder Regierung, nie auch nur im Entferntesten daran gedacht, ihre eigene Existenz für die Bewahrung der politischen und territorialen Integrität ihrer europäischen Verbündeten aufs Spiel zu setzen.
Proklamation und Wirklichkeit
Die »amerikanische Nukleargarantie« beruhte stets auf einer, wenn auch wohlgemeinten, Fiktion. Die europäischen NATO-Mitglieder haben es versäumt, die nukleare Revolution intellektuell zu verarbeiten, sie haben sich geweigert, die unumgehbaren Schlussfolgerungen zu ziehen. Sie haben die Wirklichkeit verdrängt, sie haben Artikel V des Washingtoner Vertrages vom April 1949 bewusst oder unbewusst falsch ausgelegt als eine automatische Verpflichtung, angegriffenen Mitgliedstaaten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu Hilfe zu eilen. Dabei überlässt dieser Artikel es den Verbündeten, die Qualität wie die Quantität dieser Mittel nach Gutdünken zu bestimmen.
»Wären die USA bereit, Chicago für Berlin zu opfern?«, hieß einst die bange Frage kritischer westlicher Nuklearstrategen. Die offensichtliche Antwort lautet: Natürlich würden sie dies nicht tun und viel weniger noch die Existenz ihres ganzen Landes aufs Spiel setzen. Doch wie in Hans Christian Andersens Märchen »Des Kaisers neue Kleider« hat niemand, bis auf ein Kind, sich getraut zu rufen, der Kaiser sei doch nackt.
Der französische Alleingang
In Europa hat dies nur General de Gaulle gewagt, weil er als Souveränist eine militärpolitische Unabhängigkeit Frankreichs auf der Grundlage einer eigenständigen atomaren Streitmacht erreichen wollte. Natürlich besteht auch im Falle Frankreichs eine Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, da das Land über den ungefähr zwanzigsten Teil an nuklearen Sprengköpfen verfügt im Vergleich zu Ländern wie Russland oder die USA. Die französische Nukleardoktrin, die »Dissuasion du faible au fort« ist etwas glaubwürdiger als die der NATO, da sie sich ausschließlich auf das eigene Land, die eigene Existenz bezieht.
De Gaulle und seine Vordenker hatten richtig erkannt, dass es im nuklearen Zeitalter keine militärische Beistandspflicht mehr geben kann im Falle, wo zwei Kontrahenten Massenvernichtungswaffen besitzen, mit denen sie die andere Seite auslöschen könnten, aber zugleich wissen, dass dies das Ende ihres eigenen Landes bedeuten würde.
Es ist müßig zu spekulieren, ob Frankreich, wie manchmal koketter- oder sollte man sagen frivolerweise – von Präsident Macron angedeutet, bereit wäre, seinen »atomaren Schirm« über »Europa« aufzuspannen. Noch viel weniger wäre Britannien imstande, sich an einem solchen Projekt zu beteiligen – Brexit hin oder her. Denn das Land ist, im Gegensatz zu Frankreich, in diesem existenziellen Bereich, trotz gegenteiliger Beteuerungen, weitgehend von den USA abhängig.
»Die unsichere Trompete«*
Das Nordatlantische Bündnis wurde geschmiedet zu einer Zeit, in der die USA über ein nukleares Quasi-Monopol verfügten. Spätestens mit dem Besitz von thermonuklearen Waffen interkontinentaler Reichweite auf Seiten der USA wie auch der UdSSR, also einer Art atomaren Patts ab 1953, musste es jedem einigermaßen klugen und aufrichtigen Experten oder Politiker klar sein, dass es keine »nukleare Garantie« für Drittländer geben kann.
Eigentlich hätten die USA dies auch ehrlicherweise ihren europäischen Verbündeten mitteilen sollen. Doch sie zogen es vor, die Fiktion aufrechtzuerhalten, passten allerdings ihre Strategie, wenn auch mit einiger Verspätung, den neuen Gegebenheiten an. Statt der Doktrin der »Massiven Vergeltung« gab es nun auf NATO-Ebene, offiziell seit 1967, aber de facto schon viel früher, die der »Flexiblen Replik«.
Die USA wären vielleicht bereit gewesen, sich an einem Krieg in Europa, sogar mit Einsatz von atomar bestückten taktischen Kurz- und Mittelstreckenraketen zu beteiligen, allerdings unter der Bedingung, dass es nicht zu einem interkontinentalen Schlagabtausch mit der Sowjetunion bzw. Russland käme. Sie waren sich aber natürlich stets der Gefahr einer Eskalation bewusst und wären somit äußerst zurückhaltend schon bei der Verwendung von nuklearen Gefechtsfeldwaffen gewesen.
Dieses Dilemma, ja diese Illusion von Seiten der europäischen NATO-Verbündeten hat sich bis in die Gegenwart fortgesetzt, ist als übermächtiger Schatten präsent im jetzigen Ukraine-Konflikt. Präsident Trump mag es etwas offener und zugleich brutaler artikulieren, doch grundsätzlich denken er und seine Berater keineswegs anders als all ihre Vorgänger seit Präsident Eisenhower.
Wäre es also an der Zeit, diesem Mythos ein Ende zu bereiten, die europäischen NATO-Verbündeten auf den Boden der sicherlich unerfreulichen Tatsachen zurückzubringen, zu erkennen, dass es keinen »amerikanischen Atomschirm« gibt und nie gegeben hat, weil es ihn nicht geben kann?
Es ist dies eine äußerst schwierige, delikate Frage von enormer politischer, militärischer, ja sogar ethischer Tragweite. Es würde sehr viel Mut auf Seiten der europäischen NATO-Staaten verlangen, sich der Wirklichkeit zu stellen. Und es würde einen ungeheuren politischen und psychologischen Aufwand erfordern, umzudenken, einen sicherlich auch schmerzlichen Prozess einzuleiten, sich einzugestehen, dass man einer Illusion erlegen war, dass man seine Sicherheit auf Sand, auf ein hohles Versprechen gebaut hatte, auf feierliche Erklärungen und Vertragsbestimmungen ohne strategische Substanz.
* Titel des einflussreichen Buchs von General Maxwell Taylor von 1960, in dem er die Glaubwürdigkeit der Doktrin der »Massiven Vergeltung« infrage stellte.
** Der Autor hatte sich seit Mitte der siebziger Jahre mit nuklearstrategischen Fragen befasst, u.a. als NATO Research Fellow und als Gastprofessor am Max-Planck-Institut in Starnberg.