Kultur16. Juni 2021

Die Nacht ist vorgedrungen – ein interaktiver Krimi

Anders geht's nicht

von Eva Petermann

Wie schafft es eine Autorin wie Doris Gercke, nach mehr als vierzig Jahren und mindestens drei Dutzend Romanen – Reportagen und Kurzgeschichten nicht mitgezählt – immer noch neue Ideen zu generieren?

Antwort 1: Zweifellos bieten die »finsteren Zeiten« gerade der letzten Jahrzehnte Stoff in Hülle und Fülle für jede Art von Politthriller. »Die Nacht ist vorgedrungen« hat in dieser Hinsicht denn auch mehr als genug zu bieten: Geschäfte mit »Wandernutten« und verbotene Drohnendeals; Nazis auf dem Land; Geheimdienste und dementsprechend vorzeitig Verstorbene und Verschwundene. Dazu eine investigative Reporterin, die zusammen mit ihrem Fotografen-Kumpel teuflische Scheußlichkeiten ans Licht bringt. So wie einst Bella Block, die legendäre Ermittlerin in Doris Gerckes Krimiserie? Das Zeug dazu hätte sie schon, diese Wahrheitssucherin der Tochtergeneration – Klara Böhm, die freischaffende Journalistin.

Antwort 2 zur Frage von oben: Doris Gercke, die ihren Brecht gelesen hat, läßt Raum für eigene Ideen und Lösungen, nach dem Motto: »Verehrtes Publikum, such dir selbst einen Schluß.«

Erst einmal erfahren wir einiges über die Ich-Erzählerin Klara, Hamburgerin wie Doris Gercke. Als ihr Partner fungiert der etwas undurchsichtige Starfotograf Franz Kugler. Sie sind ein prima Team: Man lobt ihr sozialkritisches Engagement; Auszeichnungen bleiben nicht aus. In die Reportage über »Die Kultur der Sieger« (der Sieger von 1989!) knien sie sich richtig rein. Völlig unterschätzt haben sie dabei die Empfindlichkeiten ihrer Auftraggeber von der großen Zeitung. Denn zwar darf »jeder schreiben, was er will, das ist die Freiheit in unserem Land!« Aber doch nicht so! Erfreuliches Ergebnis nach langem Hin und Her: Kein Wort wird geändert. Nicht so erfreulich: Kein Artikel – kein Honorar. »Man soll die Wahrheit schreiben oder man soll gar nicht schreiben. Alles, was darunter bleibt, ist Lüge und deshalb lächerlich«, läßt Doris Gercke ihre Klara sagen. Das hat seinen Preis. Partner Franz ist aber ohnehin einer ganz heißen Story in und um Moskau auf der Spur. Jetzt wird es richtig spannend und gefährlich.

Gercke unterbricht jedoch irgendwann den Erzählstrang, wechselt Thema und Ort der Handlung, verzögert Auflösungen. Eher beiläufig eingestreut sind Rückblicke auf die Zeitgeschichte, insbesondere die alte und neue BRD – auf Vietnamkrieg, Berufsverbote und Jugoslawienkrieg, auf vergangene Massenproteste und Soli-Bewegungen.

Und heutige Kämpfe? Die kommen höchstens andeutungsweise ins Bild. Gerckes Figuren recherchieren und zeigen, das ist ihr Beruf. Zum Beispiel in einer Dorfkneipe eine Protestversammlung. Ein junger Typ – Antifa? –, der etwas über Nazis im Ort weiß. In der Stadt die einen oder anderen aufrechten Kommunisten, mit denen Franz (wie bekanntlich Autorin Gercke) sympathisiert. Aber auch die kriegen ihr Fett ab. So scheint Skepsis durch – und Gerckes schwarzer Humor –, wenn Klara und Franz als Pressevertreter die Delegierten auf dem DKP-Parteitag betrachten. Begeistert beklatscht wird ein Redner, der Richard Dehmel zitiert: »Es fegt der Sturm die Felder rein, es wird kein Mensch mehr Hunger schrein.« Drei Jahre sind es da noch bis zum Anschluß der DDR und zu der großen Niederlage des Sozialismus.

War es nicht auch Klaras Niederlage? Ihre Wohnung wurde verwüstet – von wem? Franz wurde ermordet – von wem? Soll sie es allein »gegen den Rest der Welt« aufnehmen? No more. Sie flüchtet aufs Land, in das Haus mit seinem mächtigen Baumdach überm Hinterhof.

Im Dorf bleibt man distanziert. Nebenan ziehen neue Besitzer ein. Eines Tages taucht dort ein alter Bekannter von Franz auf! Mit einem Schlag holen die Stadt und alles mühsam Verdrängte sie wieder ein. Zunächst jedoch braucht ihre Freundin Rita, Schriftstellerin mit DDR-Hintergrund, ihren Beistand. Wegen eines Rundfunkinterviews, das ihr Verlag zwecks Werbung für ihr neues Buch eingefädelt hatte. Die Rita war richtig in Fahrt gekommen und hatte der entgeisterten Rundfunkjournalistin sogar Bert Brechts mahnendes Gedicht vom »Tropfen auf den heißen Stein« nicht vorenthalten: »Der Sommer kommt … Wird also eure Welt schon besser?« Die medienerfahrene Klara kann nur den Kopf schütteln über so viel Naivität.

Inzwischen ist ihr eigenes Buch ebenfalls fertig, ihr erster Roman. Grund zu feiern? Schon, aber wäre das nicht Verrat an Franz? Dessen Tod immer noch nicht aufgeklärt ist? Plötzlich ein Lichtblick: Es scheint so, als wollte ihr der wegen zu eifriger Ermittlungen suspendierte Beamte jetzt tatsächlich helfen. Von wegen! Kurz darauf kommt es gleich mehrfach knüppeldick. Nun ist die abgeklärte Klara diejenige, die das heulende Elend packt. Ausgebrannt.

Irgendwann landet sie draußen. Aus dem Weihnachtsrummel Hamburgs verschlägt es sie in ein Kirchenkonzert. Die erste Liedzeile im zufällig aufgeschlagenen und gleich wieder zugeklappten Gesangbuch spricht sie an: »Die Nacht ist vorgedrungen.« Doris Gercke verschweigt uns, wie es weitergeht in diesem Gedicht von Jochen Klepper, das er 1937 seiner jüdischen Frau Hanni widmete. Solche Auslassungen und Leerstellen haben, wie wir schon wissen, Methode bei dieser mit allen Wassern erzählerischen Handwerks gewaschenen Schriftstellerin.

Und was wird aus Klara? Sie weiß nun, sagt sie, daß sie »sich ausruhen muß« und dann »zuhören und aufschreiben, was ich sehe«. Einen noch besseren Schluß zu finden überläßt Gercke uns. Anders geht es ja auch nicht, oder?

Na, einfach selber lesen.

* * *

Doris Gercke, geboren in Greifswald, DDR, als Tochter einer Arbeiterfamilie, arbeitete als Sekretärin, war Hausfrau und Mutter und kam über das »Begabtenabitur« zum Jurastudium. In den 1980ern wandte sie sich der politischen Kriminalliteratur zu. Gleich ihr erster Roman 1988 »Weinschröter, du mußt hängen« wurde ein Bestseller. Als Schöpferin der international bekannten Ermittlerin Bella Block schrieb sie Literatur- und Fernsehkrimigeschichte. Zuletzt erschienen ihre Anthologie »Frisches Blut« und davor ihr Roman »Wo es wehtut«.