Ausland13. Juli 2021

Wird Afghanistan Vietnam 2.0?

Zur Lage in der islamischen Republik nach dem Rückzug der USA- und NATO-Truppen (1. Teil)

von Matin Baraki

Nach dem Ende des Sozialismus wurde durch einen Schreibsöldner des aus dem Kalten Krieg als »Sieger« hervorgegangenen kapitalistischen Systems, Francis Fukuyama, das »Ende der Geschichte« und durch den obersten Repräsentanten der USA, George Bush Senior, am Ende des USA-geführten Krieges gegen Irak Anfang 1991 die »Neue Weltordnung« verkündet. Im Rahmen der »Greater Middle East Strategy« (GME) der Neokonservativen um George W. Bush, Dick Cheney, Paul Wolfowitz und Donald Rumsfeld sollte die gesamte Region des Nahen und Mittleren Ostens, vom Kaukasus bis Nordafrika und von dort bis Bangladesch und zum Hindukusch, unter die Kontrolle der USA gebracht werden.

Die Anschläge vom 11. September 2001 in New York boten also gerade den geeigneten Anlaß, die »GME«-Strategie umzusetzen. Da das Taliban-Regime national, regional und international isoliert war, begannen USA-Kampfjets am 7. Oktober 2001 Afghanistan zu bombardieren. Nachdem das Taliban-Regime nach vier Wochen hinweggefegt worden war, zogen die USA-Einheiten Anfang 2003 weiter nach Irak. Dort war der Krieg noch in vollem Gang, als die Taliban, wieder erstarkt, zurückkamen.

Den USA und ihren NATO-Verbündeten ist es nicht gelungen, selbst unter Einsatz von bis zu 150.000 Soldaten, die Taliban zu besiegen. Der Krieg hat zu seinen Hochzeiten, in den Jahren zwischen 2001 und 2014, jede Woche 1,5 Milliarden US-Dollar gekostet. Abgesehen von 2.500 gefallenen USA-Soldaten, war er auf Dauer nicht mehr finanzierbar. Laut einer Veröffentlichung des Statista Research Department vom 22. März 2021 sind von 2001 bis 2020 insgesamt 3.596 Soldaten der westlichen Allianz in Afghanistan ums Leben gekommen.

Die USA mußten die Grenzen ihrer militärischen Fähigkeiten erkennen und ihre Niederlage akzeptieren. Damit ist auch die »GME«-Strategie an den Bergen des Hindukusch zerschellt. Erst dann haben die USA jahrelang geheim und zwei Jahre offiziös mit den Taliban in Doha, der Hauptstadt des Emirats Katar, verhandelt und im Februar 2020 ein Abkommen unterzeichnet. Darin haben sie sich verpflichtet, ihre Soldaten bis Ende April 2021 aus Afghanistan abzuziehen. Damit zogen die Taliban die USA diplomatisch über den Tisch und deren Kapitulation wurde vertraglich besiegelt. Als »Trost« haben die Taliban laut der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (FAZ) »in einem geheimen Anhang des US-Taliban-Abkommens vom Februar 2020 (zugesagt), die ausländischen Militärbasen vor Angriffen anderer militanter Gruppen schützen« zu wollen – wozu sie kaum in der Lage sind.

Joe Bidens Manöver

Der neue USA-Präsident Joe Biden hatte zunächst den von seinem Vorgänger Donald Trump festgelegten Rückzug bis Ende April 2021 infrage gestellt und kurz nach seiner Amtsübernahme eine Prüfung des Abkommens angeordnet. Man wollte mit den Taliban über eine Terminverschiebung sprechen. »Man kann nicht in sechs Wochen mehr als 10.000 Soldaten irgendwie abziehen«, konstatierte am 24. März 2021 der Vorsitzende des Ausschusses für Sicherheitskräfte des USA-Repräsentantenhauses, Adam Smith.

Nach dem Ende einer Beratung der NATO-Außenminister verkündete NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg: »Es ist keine endgültige Entscheidung gefallen (…). Vorerst bleiben alle Optionen offen.« Darüber hinaus sei ein Rückzug bis Ende April, wie die frühere USA-Regierung mit den Taliban vereinbart hatte, schon aus logistischen Gründen nicht zu gewährleisten. Wir werden »gemeinsam entscheiden«, Afghanistan zu verlassen, »wenn die Zeit reif ist«, sagte ein Vertreter des USA-Botschafters bei der NATO in Brüssel.

Am 29. März 2021 erklärte Präsident Biden, daß er sich wegen der vereinbarten Frist nicht unter Druck setzen wolle. Trotzdem könne er sich nicht vorstellen, daß auch im kommenden Jahr noch USA-Soldaten am Hindukusch stationiert sein würden. »Wir werden gehen. Die Frage ist, wann wir gehen«, sagte Biden.

Rückzug statt Flucht

Die Taliban bestanden aber darauf, daß die USA sich an das Abkommen vom Februar 2020 halten. Der Sprecher der Islamisten meldete per Twitter, wenn die Biden-Regierung sich nicht an das geschlossene Abkommen hielte, würden »die Probleme dadurch gewiß verstärkt, und diejenigen, die sich nicht an das Abkommen gehalten haben, werden dafür zur Verantwortung gezogen«. Wie jedes Jahr hatten die Taliban ihre Frühjahrsoffensive angekündigt, um damit in diesem Jahr die USA und die NATO zum Rückzug zu zwingen. Das wäre eine faktische Vertreibung der Weltmacht vom Hindukusch und ein geordneter Rückzug der US- und NATO-Einheiten aus Afghanistan wäre kaum möglich. Es drohe »mehr nach Flucht auszusehen«, sagte die »Verteidigungspolitikerin« Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der liberalen deutschen FDP. Genau dieses Szenario wollen die USA auf jeden Fall vermeiden – ein zweites Saigon darf es nicht geben.

USA-Präsident Biden mußte nolens volens einsehen, daß die USA in Afghanistan keine Perspektive mehr haben, und hat schließlich am 13. April 2021 den Rückzug seiner Soldaten für September 2021 angeordnet, wie die »Washington Post« meldete. Bis zum 11. September müssen alle USA-Einheiten bedingungslos und ohne eine Gegenleistung seitens der Taliban vom Hindukusch abgezogen sein. »Es ist an der Zeit, den längsten Krieg Amerikas zu beenden. Es ist Zeit, daß die amerikanischen Soldaten nach Hause kommen«, hob Biden hervor.

Er wies darauf hin, daß er der vierte Präsident sei, in dessen Amtszeit die USA-Einheiten in Afghanistan Krieg führen. »Ich werde diese Verantwortung nicht an einen fünften übergeben.« Es sei kaum möglich, betonte Biden, den Kriegseinsatz in die Länge zu ziehen »in der Hoffnung, daß irgendwann die Umstände für einen idealen Rückzug vorliegen«. Dafür werde es niemals »ideale Bedingungen« geben.

So kann auch ein Verlierer seine Niederlage schönreden. »Die Niederlage des Westens ist so umfassend, daß sich die Taliban nicht einmal zum Schein an Friedensgesprächen beteiligen müssen. Die ausländischen Streitkräfte ziehen nun nahezu Hals über Kopf ab«, schrieb Peter Carstens in der »FAZ« Ende April, nachdem die Taliban die Einladung der USA zu einer Friedenskonferenz ausgeschlagen hatten. Eine Abschiedszeremonie für die 10.000 NATO-Soldaten war nicht vorgesehen.

Der Abzug

Ab dem 1. Mai 2021 begann offiziell der Rückzug der NATO-Einheiten aus Afghanistan. Was passiert aber mit den ausländischen Söldnern, die im Auftrag des USA-Geheimdienstes Central Intelligence Agency (CIA) und anderer Geheimdienste der NATO-Länder in Afghanistan im Einsatz sind? Assadullah Walwalgi, ein Experte für Militärfragen in Kabul, geht von rund 40.000 Söldnern aus, die bei etwa 50 verschiedenen, überwiegend US-amerikanischen Firmen unter Vertrag stehen. Von deren Ab- und Rückzug ist bis jetzt nirgends die Rede.

Deutsche Interessen

Der Slogan »Gemeinsam rein, gemeinsam raus« der deutschen Kriegsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer ist mehr als eine Unwahrheit. »Wahrheit ist etwas so Kostbares, daß Politiker nur sehr sparsam damit umgehen«, sagte einmal treffend der US-amerikanische Schriftsteller Mark Twain. Denn seit der Einverleibung der DDR hegt die politische und militärische Klasse Deutschlands erneut Großmachtambitionen.

Dies geht aus den »Verteidigungspolitischen Richtlinien« vom 26. November 1992, 21. März 2003 und 18. Mai 2011 sowie aus dem Weißbuch 2004 beziehungsweise 2006 zur »Sicherheitspolitik« Deutschlands und zur Lage und Zukunft der Bundeswehr hervor. Die Grenze der Verteidigung Deutschlands ist nicht mehr die vom Grundgesetz (Artikel 87a) vorgeschriebene Landesverteidigung – Einsatzgebiet ist inzwischen die ganze Welt.

Bemerkenswert ist die Rede des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog im Berliner Hotel Adlon am 26. April 1997, in der er mit Nachdruck auf die deutschen Großmachtambitionen hinwies: »Ein großes, globales Rennen hat begonnen: Die Weltmärkte werden neu verteilt, ebenso die Chancen auf Wohlstand im 21. Jahrhundert. Wir müssen jetzt eine Aufholjagd starten.«

Auch Afghanistan wurde erneut, nun zum dritten Mal, als Teil des Schachbretts globaler Ambitionen Deutschlands mit eingeplant. Man wartete nur noch auf einen geeigneten Anlaß. Der 11. September 2001 bot sich dann ganz ausgezeichnet dafür an – hätte es ihn nicht gegeben, man hätte ihn erfinden müssen. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) verkündete die »uneingeschränkte Solidarität Deutschlands« mit den USA. Vor diesem Hintergrund wurde zum ersten Mal, gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrages, der »Bündnisfall« erklärt.

»Wir dürfen auch nicht vergessen: Es war nicht zuletzt Deutschland, das 2002 die NATO gedrängt hat, Afghanistan zu einer NATO-Operation zu machen. Das ist die Regierung Schröder/Fischer gewesen«, erklärte der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Klaus Naumann, in einem Interview mit dem »Deutschlandfunk« 2009. Damit wurde der politischen und militärischen Klasse Deutschlands die Möglichkeit eröffnet, sich am Krieg gegen Afghanistan zu beteiligen.

Die Militarisierung der deutschen Außenpolitik schuf die Voraussetzung für die prägnante Formulierung des sozialdemokratischen Kriegsministers Peter Struck nach der Verabschiedung der »Verteidigungspolitischen Richtlinien« im Frühjahr 2003, »Deutschland (werde) am Hindukusch verteidigt« – ein Satz, der immer wieder zitiert worden ist. »Der Satz ist einer der törichtesten Sätze der deutschen Nachkriegsgeschichte«, bemerkte dazu Heribert Prantl, damaliger Leiter des Ressorts Innenpolitik der »Süddeutschen Zeitung«. Die Strucksche Aussage ist auch deswegen falsch, weil die Taliban nur eine regionale Agenda haben. Sie sind keine internationalen Terroristen und »wollen nicht Hamburg und New York angreifen«, schrieb Christoph Schwennicke 2010 im »Spiegel«. Durch das militärische »Engagement« Deutschlands am Hindukusch wurde zum einen die deutsche Außenpolitik militarisiert, zum anderen war Afghanistan der Türöffner für künftige weltweite Operationen der Bundeswehr.

Der 2. Teil folgt in unserer morgigen Ausgabe