Leitartikel10. August 2023

Reizüberflutetes Einkaufen noch zeitgemäß?

von

Kamen die ersten Supermärkte in den USA bereits im 19. Jahrhundert in Mode, dauerte es in Europa noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg, ehe in den 1950ern dieses Geschäftsmodell auf die breite Öffentlichkeit zugelassen wurde. Damit ging auch eine neue Verkaufspsychologie einher: Da die Kunden sich nunmehr selbst orientieren mußten oder konnten – je nach Sichtweise – wollte man sie natürlich weiterhin im Griff haben. Etwa durch bestimmte Regalsortierungen: Teure Produkte mit größeren Ertragsraten in angenehmer Blickhöhe, vergleichbare, günstigere Artikel in der sogenannten »Streck-« oder »Bückzone« außerhalb der Komfortzone des Kunden. Gepaart mit attraktiv wirkenden Sonderaufbauten und einer subtilen Beschallung durch Kaufanreize, gepaart mit Musik, setzte sich die Entwicklung fort.

Immer lauter, schriller und bunter wurden die Verkaufserlebnisse mit den Jahren. Der technologische Fortschritt schaffte dabei immer mehr Möglichkeiten mit digitaler Visualisierung oder Effekten. Gepaart mit der ebenfalls immer aggressiver werdenden Reklame auch außerhalb von Einkaufszentren, etwa in TV, Internet oder auf sozialen Plattformen, scheint der Beschuß durch visuelle und akustische Kaufanreize immer heftiger zu werden. Während man sich der Reizüberflutung im Netz mittels Adblockern einigermaßen Ruhe verschaffen kann, bleibt es in Geschäften weiterhin hart für Menschen, die leicht in Streß geraten oder aus anderen Gründen solche Zustände meiden müssen und somit Probleme haben, ihre Einkäufe zu erledigen.

Insbesondere hochsensible Menschen, für die jedes unangenehme Geräusch zur Tortur wird oder auch autistische Personen leiden häufig unter der Einkaufssituation. Vor diesem Hintergrund gehen mittlerweile immer mehr Supermärkte dazu über, sogenannte »stille Stunden« anzubieten, in denen von Kette zu Kette unterschiedlich etwa Durchsagen unterlassen werden, laute Rollcontainer stehen bleiben müssen oder die Kassen und Telefone im Laden leiser gestellt werden. Häufig wird auch das Licht gedimmt. Anlaß für diesen auch in Europa zunehmenden Trend war eine Mutter in Neuseeland, die ihr autistisches Kind aufgrund der Streßsituation nicht mit zum Einkaufen nehmen konnte.

Nun springt der Funke auch nach Luxemburg über: Die französische Warenhauskette Auchan hat in zwei hauptstädtischen Filialen nun »stille Stunden« eingeführt. Diese liegen allerdings für berufstätige Menschen denkbar ungünstig am Vormittag oder Nachmittag, also nicht zu den Zeiten, an denen diese Personengruppe üblicherweise einkaufen geht. Sensible Menschen mit Job werden sich also arrangieren müssen oder weiterhin berieseln lassen.

Dennoch grundsätzlich eine positive Entwicklung, die ausbaufähig sein dürfte. Immer mehr Menschen leiden mittlerweile unter der täglichen Dauerbeschallung auf allen Ebenen und die Frage ist längst überfällig, inwieweit es überholt sein dürfte, immer mehr Werbung auf die Zielgruppen abzufeuern. Der Nutzen aus diesem Overkill an Reizüberflutung dürfte irgendwann fraglich werden.