Ausland04. Oktober 2023

Wunschdenken statt Realpolitik

Deutsche Ökonomen prophezeien für 2023 »Konjunkturabschwung«. Aber danach soll es aufwärts gehen. Ganz bestimmt

von Klaus Fischer, Berlin

Führende BRD-Wirtschaftsforschungsinstitute haben am Donnerstag das Resultat steten Bemühens verkündet: In ihrem Herbstgutachten gehen sie von einem Konjunkturabschwung im Gesamtjahr aus. Einen Teil der Verantwortung sehen sie bei der Bundesregierung.

Laut Kanzler Olaf Scholz (SPD) leben wir in einer Zeitenwende. Nur kommt sie faktisch anders daher als in Sonntagsreden. Und für die Bundesrepublik hat das Konsequenzen. Die bislang viert- bzw. fünftgrößte Volkswirtschaft der Erde (je nach Berechnungsweise) schrumpft. In diesem Jahr laut Gutachten »nur« um 0,6 Prozent. Das hat auch damit zu tun, daß ein solcher Brocken mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von rund vier Billionen Euro im Vorjahr nicht so schnell ins Rutschen kommt. Aber wehe, wenn er Fahrt aufnimmt.

Deutschland sei wieder der »kranke Mann Europas«, schrieb der »Economist« im August. Das britische Wirtschaftsmagazin erinnerte damit auch an seine gleichlautende Titelgeschichte 25 Jahre zuvor. Obwohl sich die Wirtschaft auf der Insel selbst nicht besser präsentiert, war das eine Art Startschuß für moderate Kritik auch in den deutschen »Leitmedien« am BRD-Regierungskurs.

Im Frühjahr 2023 war das noch anders. Da wurde zwar die seit 2022 grassierende Inflation beklagt. Dennoch gefielen sich Politiker und Ökonomen in Wunschdenken. So vermuteten die genannten Institute damals für das Gesamtjahr ein leichtes BIP-Wachstum von 0,3 Prozent. Die »Ampelregierung« gab sich sogar noch optimistischer.

Die neue Prognose bedeutet kein Umdenken der Auguren. Sie räumen einen Abschwung ein, behaupten aber, daß der 2024 vorbei sein werde. Dann soll die Wirtschaft wieder wachsen. Um 1,3 Prozent. Eine realitätsnahe Analyse?

Ursachenforschung bleibt indes weitgehend aus. Bei den Instituten aus Berlin, Kiel, Essen, Halle und München setzt man lieber auf optimistische Ausblicke und umgedeutete Zusammenhänge. Und wer etwa die »Tagesschau« konsumiert, kann alles in Kurzform bekommen. Dort ist aus der Nachricht längst ein Mantra geworden: Die Energieknappheit habe sich durch den »russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine« zu einem Problem entwickelt – nicht etwa wegen der Sanktionen des Westens.

Kausalitäten oder politisch unerwünschte Implikationen des globalen Verwertungsprozesses sind kaum gefragt. Ohnehin verstärkt sich der Eindruck, daß die Regierenden keine Ahnung vom Kapitalismus haben. Probleme wie Bildungsnotstand, Fachkräftemangel, marode Infrastruktur, Überregulierung und eine dysfunktionale EU als Überregierung werden verschwiegen oder aus dem Kontext gerissen. Ebenso die gestiegenen Zinsen und die überbordenden Staatsschulden.

Statt dessen werden Wirkungen zu »Gründen« für die Krise umgedeutet. Laut einem Bericht der Nachrichtenagentur dpa vom Donnerstag sei der »wichtigste Grund für die Prognosesenkung«, daß sich die Industrie und der private Konsum langsamer erholt haben, als von den Instituten im Frühjahr erwartet. Dies wiederum liege auch an »der schwachen Weltkonjunktur«. Zudem sei die Produktion in energieintensiven Wirtschaftsbereichen zurückgegangen. Daß die BRD-Chemiebranche dabei ist, ihre Sachen zu packen und günstigere Standorte zu suchen – wen juckt es. Allenfalls die Beschäftigten. Einen subventionierten »Industriestrompreis« lehnen die Institute jedenfalls ab.

Ja, der private Konsum lahmt. Immerhin: Im September habe sich die Inflation »deutlich abgeschwächt«, schrieb dpa – oder besser, die Teuerung geht zwar munter weiter, aber etwas langsamer. Die Verbraucherpreise lagen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes noch 4,5 Prozent über dem Vorjahresmonat, nicht zuletzt, weil vor einem Jahr Tankrabatt und Neun-Euro-Ticket weggefallen waren.

Stichwort moderate Kritik: Die Institute bescheinigten der Bundesregierung, Unternehmen und Haushalte »massiv verunsichert« zu haben. Dies erschwere ökonomische Planungen und trage dazu bei, daß die Wirtschaft nicht so bald aus dem Abschwung herausfinde. Torsten Schmidt vom RWI-Institut Essen begrüßte laut dpa zwar, daß die Bundesregierung die Klimapolitik beherzt in Angriff genommen habe. Nur: »Die Maßnahmen sind aus unserer Sicht die falschen.«

Das ist untertrieben, aber korrekt adressiert. Die Politik der Regierung steuert weiterhin ihren Kurs. Und der trifft auf wenig Widerstand. Vielleicht, weil SPD-Funktionäre noch immer die Gewerkschaften im Klammergriff halten? Manche vermuten allerdings, das sei eine Generationsfrage.

In den 90ern wollten viele junge Leute »irgendwas mit Medien« machen. Vielleicht wäre »irgendwas mit Wirtschaft« besser gewesen.