Leitartikel25. August 2022

Lehren aus Fukushima vergessen

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Noch elfeinhalb Jahre nach dem Super-GAU in Japan muß die Atomruine Fukushima Daiichi ständig mit Wasser gekühlt werden. Doch laut dem nach der Reaktorkatastrophe sofort verstaatlichten Betreiber TEPCO wird der Platz zur Zwischenlagerung der zunächst in viele Hundert Plastiktanks gefüllten verstrahlten Suppe knapp.

Schon ab dem kommenden Frühjahr soll deshalb radioaktives Kühlwasser in den Pazifischen Ozean abgelassen werden, hat die japanische Regierung Anfang August entschieden. Nicht nur in China und in beiden koreanischen Staaten (!) haben die Tokioter Verklappungspläne für Entsetzen gesorgt.

Denn trotz Filterung und Verdünnung wird das Kühlwasser aus Fukushima Radionuklide wie Tritium, aber vermutlich auch Cäsium und Strontium enthalten. Die beiden letztgenannten radioaktiven Atome haben in bestimmten Formen eine Halbwertszeit von mehreren Tausend Jahren. Die Halbwertszeit gibt an, nach welcher Zeitspanne sich die Anzahl der radioaktiven Ausgangskerne, die in die Umgebung abgestrahlt werden, halbiert hat.

Doch was sich tatsächlich im Kühlwasser an Radionukliden tummelt, kann erst untersucht werden, wenn die Suppe die Tanks verläßt. Auf jeden Fall würden die strahlenden Partikel nicht an Japans Küste bleiben, sondern mit der angekündigten Verklappung auf eine sehr lange Reise geschickt.

Denn der Kuroshio-Strom, eine oberflächliche Meeresströmung im westlichen Pazifik, wird die Radionuklide aufnehmen und kann sie schließlich bis an die Pazifikküste der USA transportieren. Der größte Teil aber würde wohl auf dem Meeresboden irgendwo in der Mitte des Pazifiks landen. Dort werden sie von filtrierenden Organismen aufgenommen und teilweise in den Boden eingelagert. Kleinste Meeresbewohner wie Würmer laben sich am Meeresboden. Das ist der Beginn des Weges in die Nahrungskette, an deren Ende der Mensch steht.

Damit nicht genug. Gestern hat der japanische Premier Fumio Kishida – dessen Liberaldemokraten erst Anfang Juli mit dem Wahlspruch, das »Leben der Leute schützen« zu wollen, zu den Oberhauswahlen angetreten waren – in Japan ein Comeback der Kernenergienutzung angekündigt. Bis zum Ende des Jahrzehnts soll der Anteil des aus Atomkraft erzeugten Stroms, der nach dem durch ein Seebeben und einen darauffolgenden Tsunami ausgelösten Super-GAU auf zuletzt etwas über fünf Prozent zurückgefahren wurde, wieder auf »20 bis 22 Prozent« erhöht – also mindestens vervierfacht – werden.

Dazu will Premier Kishida im erdbebengefährdeten Japan möglichst alle nach dem 11. März 2011 abgeschalteten Uraltmeiler wieder hochfahren, die Laufzeit bereits reaktivierter Atomkraftwerke auf mehr als 60 Jahre verlängern und sogar noch neue AKWs bauen lassen.

Auch in Europa setzen viele Regierungen wieder auf Atomkraft: In Britannien wird mit Hinkley Point C im Südwesten Englands das erste AKW seit mehr als zwei Jahrzehnten gebaut, das Kraftwerk Sizewell in Ostengland soll ebenfalls einen neuen Reaktorblock erhalten. Auch in Frankreich und weiteren EU-Staaten werden neue Meiler errichtet. In Schweden werben die Liberalen vor der Reichstagswahl angesichts hoher Energiepreise für einen Ausbau der Atomkraft.

Doch jedes weitere AKW erhöht das Risiko eines neuerlichen Super-GAUs und vergrößert den Berg weltweiten Atommülls, dessen Entsorgung nach wie vor nicht geklärt ist.