Leitartikel06. Mai 2021

Ein starkes Zeichen

von Christoph Kühnemund

Am vergangenen Samstag setzte der OGBL mit seinen Syndikaten, Mitgliedern und Sympathisanten ein deutliches Ausrufezeichen zu einem Zeitpunkt, wo es wichtiger kaum sein konnte. Auch wenn der kurze Marsch zum Gemeindeplatz eher ein symbolischer war: Die aus der Corona-Not heraus geborene Rückkehr zur Präsenz auf der Straße war eine gute Entscheidung. Wer neben der Strecke genauer hinsah, konnte erkennen, daß nicht wenige Menschen mit dem Anblick der Masse an Gewerkschaftern durchaus überfordert waren, als sie etwa aus dem am Feiertag geöffneten Supermarkt kamen. Mancher mag aber auch die Botschaft verstanden haben und geht vielleicht im nächsten Jahr mit.

Rund 20 Euro kostet der monatliche Mitgliedsbeitrag in einer Gewerkschaft. Es kann also nicht nur am Geld liegen, daß viele die Notwendigkeit (noch) nicht sehen, gewerkschaftlich organisiert zu sein. Das Verständnis, daß all die sozialen Errungenschaften in den Betrieben von den Generationen vor uns hart erkämpft werden mußten und keine Selbstverständlichkeit oder gar patronale Gutherzigkeit darstellen, geht leider verloren. Das liegt vor allem auch an der Entpolitisierung der vergangenen Jahrzehnte. Als der junge Mann, der am 1. Mai nach seinen Einkäufen im Supermarkt am Gemeindeplatz die Gewerkschafter vor der Tür zur Seite rempelte und seinen Weg fortsetzte, mag er nicht daran gedacht haben, daß diese Leute seinesgleichen sind, denn sein eigener Vorteil, an diesem Tag einkaufen zu gehen, war ihm in diesem Moment wichtiger.

Die Tradition, Mitbestimmung, Arbeitszeitverkürzung und andere Forderungen mit Druck von der Straße durchzusetzen, ist in den Köpfen vieler Menschen nicht mehr präsent. Die Gewerkschaft und die sie vertretenden Betriebsräte stehen manches Mal auf schwierigem Posten, weil viele Arbeitskollegen eine Gewerkschaft nicht als Organisation der gemeinsamen Stärke durch Beteiligung, sondern als Dienstleister und die sie vertretenden Betriebsräte als »Mädchen für Alles« verstehen, die sich in ihrem Interesse mit dem Boß herumschlagen, ohne daß sie selbst Farbe bekennen müssen.

Dabei wäre es gerade jetzt, wo versucht wird, viele der angesprochenen Errungenschaften auch im Schatten der Zeit nach der Gesundheitskrise scheibchenweise zurückzunehmen, soweit, sich darauf zu besinnen, welche Wirkung und welchen Wert die Organisation in einer Gewerkschaft hat.

Gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte sind deutlich schwerer zu spalten. Gerade in der aktuellen Situation ist diese Geschlossenheit wichtig, um deutlich zu machen, daß der soziale Roll-Back nicht einfach so durchzusetzen ist. Wenn alle Beschäftigten ihren Widerstand organisiert auf die Straße bringen und Geschlossenheit in ihren Forderungen zeigen, dann wird es schwer, dies zu ignorieren.

Dazu gehört auch, zu verstehen, daß eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit nur auf Basis der demographischen Entwicklung falsch ist. Dazu gehört, zu verstehen, daß eine Forderung nach kürzerer Wochen- und Lebensarbeitszeit nicht zwangsläufig weniger Einkommen bedeutet und daß Mitbestimmung im Betrieb keine Bittstellerei, sondern ein legitimes Recht sein muß. In diesem Zusammenhang muß etwa die Forderung nach der 35-Stundenwoche in Luxemburg auf breiter Front geschehen.

Die sozialen Errungenschaften früherer Generationen dürfen nicht auf dem Silbertablett präsentiert werden, im Gegenteil gilt es, weitere Verbesserungen durchzusetzen. Die Rückkehr auf die Straße war vor diesem Hintergrund ein starkes Zeichen der Solidarität und gegenseitige Ermutigung.