Leitartikel28. Dezember 2021

Meinst du, die Russen wollen Krieg?

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Auch in der vermeintlich friedlichen Weihnachtszeit haben sie nicht aufgehört, die beständigen Wiederholungen der Bedrohungslüge. »Putin droht dem Westen« lautete eine der Schlagzeilen der letzten Tage. In den Meldungen wird erneut auch die Behauptung aufgestellt, der russische Präsident habe »dem Westen« ein Ultimatum gestellt, indem er seine Forderung bekräftigte, die NATO solle auf eine weitere Osterweiterung verzichten, also auf die Aufnahme weiterer Staaten, die bis vor 30 Jahren der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken angehörten, in den westlichen Kriegspakt.

Eine besondere Gefahr sieht die russische Führung in der sogar gesetzlich fixierten Absicht der Ukraine, der NATO beizutreten. Der ukrainische Präsident und seine Umgebung fordern darüber hinaus eine weitere Bewaffnung und die Stationierung von immer mehr NATO-Truppen. Vorbild dafür dürfte der Aufbau von vorgeschobenen schnellen Eingreiftruppen der NATO in Polen und in den baltischen Staaten sein. Daß Rußland diesen real existierenden Truppenaufmarsch vor der eigenen Türschwelle als Bedrohung ansieht, dürfte keinen rational denkenden Menschen verwundern. Und daß die russische Führung sich bemüht, mit der NATO und den USA darüber zu reden, wie eine weitere militärische Bedrohung verhindert werden kann, ebenso wenig.

Ein solches Anliegen als »Ultimatum« zu bezeichnen, ist geradezu grotesk. Aber es ist zumindest ebenso grotesk – und nahezu ultimativ formuliert –, wenn der NATO-Generalsekretär unmittelbar vor Weihnachten den russischen Präsidenten öffentlich auffordert, er möge »die Feiertage nutzen«, um über seine Forderungen und den Rückzug russischer Truppen aus den westlichen Territorien Rußlands nachzudenken.

Am Sonntag hatte Putin erklärt, daß Entscheidungen in Moskau auf der Grundlage von Empfehlungen der russischen Militärexperten getroffen werden, sollten die USA und die NATO nicht bereit sein, auf die schriftlich unterbreiteten Vorschläge Rußlands einzugehen. Für den Staatschef einen Landes wie Rußland ist das eine durchaus normale Aussage, denn bisher gab es außer Terminvorschlägen für Gespräche aus Washington und Brüssel keine greifbare Antwort. An einem bisher noch nicht näher genannten Termin im Januar soll es Gespräche mit den USA geben, und die NATO hat den 12. Januar für ein Treffen im Format des NATO-Rußland-Rates ins Gespräch gebracht. Gleichzeitig wurde aus Moskau gemeldet, daß die Streitkräfte ihre Winterübungen im Westen Rußlands beendet haben und an ihre Standorte zurückkehren.

Die wichtigste Frage aber haben Politiker und Medien des »Westens« bisher nicht gestellt und schon gar nicht beantwortet: Welches Interesse sollte Rußland haben, einen Krieg gegen die Ukraine zu führen, oder gar gegen einen der Nachbarstaaten, die der NATO angehören?

Im Jahre 1961, mitten im Kalten Krieg, als die Frontstadt Westberlin die Gemüter erregte und die sogenannte Kuba-Krise die Welt an den Abgrund eines Atomkrieges manövriert hatte, schrieb der russische Dichter Jewgeni Jewtuschenko Verse mit dem Titel »Meinst du, die Russen wollen Krieg?«. Die Frage ist heute so aktuell wie in jener Zeit. Und ebenso die Erkenntnis in Jewtuschenkos Gedicht, die sich tief in die Seele des russischen Volkes eingebrannt hat: »Der Kampf hat uns nicht schwach geseh‘n, doch nie mehr möge es gescheh‘n, daß Menschenblut, so rot und heiß, der bitt’ren Erde werd’ zum Preis.«