Sauerstoffgeräte statt Impfstoffpatente
Der Westen blockiert weiterhin die Freigabe von Covid-19-Impfstoffpatenten. BioNTech soll mit Milliardenprofiten den Biotech-Standort Deutschland stärken
Angesichts der dramatischen Eskalation der Covid-19-Pandemie in Indien nimmt der Druck auf die wohlhabenden westlichen Staaten zur Freigabe der Impfstoffpatente zu. Anders könne die dringend erforderliche Produktionssteigerung bei den Vakzinen nicht erreicht werden, heißt es in einem aktuellen Aufruf rund 30 Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen: Der Kampf gegen die Pandemie drohe zu scheitern.
Indien und Südafrika setzen unterdessen ihre Bemühungen fort, die Patentfreigabe in der WTO zu erreichen, werden dabei allerdings weiterhin von den EU-Staaten und den USA ausgebremst.
Patentfreigabe gefordert
Mehr als 30 international tätige Hilfs- sowie Menschenrechtsorganisationen verstärken den Appell, die Patente auf Covid-19-Impfstoffe wenigstens zeitweise freizugeben. Es sei »allgemein bekannt«, daß »aufgrund begrenzter Produktionskapazitäten ... derzeit nicht genügend Impfstoffdosen« für den globalen Bedarf hergestellt werden könnten; deshalb müsse mit der Aufhebung der Patente die Chance eröffnet werden, daß künftig »mehr Impfstoff an viel mehr Standorten produziert werden kann«, heißt es in einem Aufruf. Anders könne »die notwendige Produktionssteigerung ... nicht erreicht werden«.
Die Pandemie sei nicht schon »zu Ende, wenn alle Menschen in Europa immunisiert« seien, »sondern erst, wenn das Virus weltweit besiegt« ist. Ganz besonders »das Horten von Impfstoffen«, wie es vor allem die USA praktizieren, untergrabe »die globalen Anstrengungen, die sicherstellen sollen, daß alle Menschen überall vor Covid-19 geschützt werden«, konstatiert eine Vertreterin von Amnesty International: »Wenn sich die Situation nicht ändert«, heißt es weiter in dem Aufruf, »werden die Interessen und Gewinne einiger weniger das Schicksal der Mehrheit bestimmen.«
Brachliegende Potentiale
Der Aufruf, der unter anderem von Human Rights Watch, Oxfam International, Brot für die Welt und Medico International unterstützt wird – Organisationen, auf deren Stellungnahmen sich zum Beispiel die Regierung in Berlin zur Legitimierung außenpolitischer Aggressionen gegen fremde Staaten gern bezieht –, knüpft an eine Vielzahl früherer Appelle, Stellungnahmen und politischer Aktivitäten mit identischer Zielsetzung an.
Bereits am 2. Oktober 2020 hatten Indien und Südafrika in der Welthandelsorganisation WTO den Vorschlag eingebracht, die Patente auf Covid-19-Impfstoffe zumindest für die Dauer der Pandemie auszusetzen. Ihr Vorstoß wird in der EU und den USA, wo große Impfstoffkonzerne ihren Hauptsitz haben, von hunderten Parlamentsabgeordneten, von Gewerkschaften und von Wissenschaftlern befürwortet, zudem von WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus und 175 ehemaligen Staats- und Regierungschefs und Nobelpreisträgern, die in einem eigenen Aufruf den »offenen Austausch von Impfstoff-Know-how und –Technologie« fordern.
Millionen haben entsprechende Petitionen unterzeichnet. Seit Wochen kursieren Schätzungen, denen zufolge gegenwärtig weniger als die Hälfte sämtlicher weltweit verfügbaren Produktionskapazitäten zur Covid-19-Impfstoffherstellung genutzt wird: Mächtiges Potenzial liegt brach.
Die Reichen zuerst
Verhindert wird die Freigabe der Impfstoffpatente bislang unverändert von der EU, von der Schweiz und Britannien sowie von den USA, die alle zum »wohlhabenden« Teil der Welt gehören; dieser hat laut einer aktuellen Aufstellung der Nachrichtenagentur AFP rund 47 Prozent der bislang ausgelieferten Dosen – gut eine Milliarde – unter seinen Einwohnern verimpft, die freilich kaum 16 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen.
Die ärmsten Länder der Welt dagegen, in denen knapp 10 Prozent der globalen Bevölkerung leben, haben bisher lediglich 0,2 Prozent aller bisher ausgelieferten Impfdosen erhalten, zwölf Länder sogar noch gar nichts. Im zuständigen WTO-Gremium (»TRIPS Council«) verwahrten die reichen Staaten sich in der vergangenen Woche zum wiederholten Mal gegen das Drängen vor allem Indiens, in Sachen Patente doch endlich nachzugeben; Indien steht unter ganz besonderem Druck, seit die Pandemie dort eskaliert und das Gesundheitssystem kollabieren läßt.
Die Totalblockade der reichen Staaten habe bei der jüngsten Sitzung des TRIPS Council zu einem emotionalen »Ausbruch« geführt, berichten indische Medien: Es sei absehbar, daß es ohne Freigabe der Patente nicht gelinge, die Bevölkerung der ärmeren Welt zu immunisieren.
Milliardenprofite
Was genau sich Brüssel und Washington mit ihrer Patentblockade zu sichern suchen, zeigen exemplarisch die Umsatz- und Gewinnerwartungen des Konzernduos BioNTech/Pfizer. Anders als etwa AstraZeneca oder Johnson & Johnson, die zugesagt haben, ihre Impfstoffe bis zum Ende der Pandemie zum Produktionspreis ohne Gewinn zu verkaufen, erzielen BioNTech und Pfizer schon jetzt satten Profit. Pfizer hat bereits im Februar mitgeteilt, man erwarte aus dem Verkauf des Covid-19-Impfstoffs einen Umsatzsprung von rund 15 Milliarden US-Dollar bei einer Gewinnmarge von annähernd 30 Prozent; das wäre ein Profit von gut 4 Milliarden US-Dollar.
Weil Pfizer und BioNTech sich das Impfstoffgeschäft im Verhältnis 50 zu 50 teilen, ist bei dem deutschen Unternehmen ein ähnlicher Gewinn zu erwarten – möglicherweise auch noch mehr: In Deutschland vermarktet die Firma das Vakzin alleine. Daß die EU kürzlich für die Zeit von Ende 2021 bis 2023 bei BioNTech/Pfizer eine Anschlußbestellung von 1,8 Milliarden Impfdosen in Auftrag gegeben hat, ist von Fachleuten zwar kritisch kommentiert worden, weil sich die EU dadurch »von einem einzigen Hersteller abhängig macht«. Für die beiden Unternehmen ist es jedoch eine Garantie für ein einzigartiges Geschäft.
»Chance für den Standort Deutschland«
Pfizer, bis zum Verkauf seiner Generikasparte weltgrößter Pharmakonzern, könne hoffen, dank der Pandemieprofite »in diesem Jahr an die Spitze zurückzukehren – und zwar profitabler als zuvor«, heißt es in Wirtschaftskreisen. BioNTech wiederum, bislang ein mittelgroßes Unternehmen mit einem Umsatz von nicht einmal 110 Millionen Euro im Jahr 2019, soll laut Plänen seines Hauptinvestors Thomas Strüngmann Schritt für Schritt zu einem »eigenständigen, voll integrierten Pharmakonzern« werden; die Chance, daß dies gelinge, bestehe in Deutschland zum ersten Mal »seit Jahrzehnten«, hieß es am 21. März im »Manager Magazin«.
Die mRNA-Technologie, auf der das BioNTech/Pfizer-Vakzin basiert, wird von Experten dabei als Medizintechnologie der Zukunft mit gewaltigem Geschäftspotenzial eingestuft. »Es handelt sich ... um globale Milliardenmärkte«, wird Oliver Schacht, der Vorsitzende des Biotech-Unternehmerverbandes BIO, zitiert: Der Durchbruch, den BioNTech erzielt habe, sei »eine große Chance für den Biotech-Standort Deutschland«. Freilich steht dies der etwaigen Freigabe der Impfstoffpatente entgegen: Lasse man sich auf sie ein, dann könne »die neue mRNA-Technologie ... in die Hände von Rußland und China fallen«, zitierte das »Handelsblatt« am Montag aus Branchenkreisen. Auch die Nutzung von bereits erprobten Impfstoffen aus Rußland, China oder gar Kuba könnte den Profitinteressen der Konzerne schaden.
Mit Symptombehandlung abgespeist
Entsprechend verweigert auch Berlin weiterhin die Freigabe der Patente – und sucht Indien nun stattdessen mit Hilfslieferungen zufriedenzustellen. Man arbeite an einer »Unterstützungsmission«, erklärte der Berliner Regierungssprecher Steffen Seibert am Dienstag; in Frage komme die Lieferung von Sauerstoffanlagen, Beatmungsgeräten und Medikamenten. Die EU plane vergleichbare Hilfen.
Auch die Biden-Administration in den USA hat die Lieferung von Sauerstoffanlagen, Medikamenten sowie Vakzingrundstoffen für die indischen Impfstoffhersteller zugesagt; in Indien hatte zuletzt schweren Unmut ausgelöst, daß die USA den Export bestimmter Grundstoffe blockiert hatten. Während Berlin und Washington damit Beiträge zur Symptombehandlung leisten, bewahren sie die Impfstoffpatente, die Indien echte Hilfe bringen könnten, für sich.