Ausland23. Oktober 2021

Wer waren die Scharfschützen?

Libanon: Streit um Aufklärung des tödlichen Angriffs auf Demonstrationszug in Beirut

von Karin Leukefeld, Damaskus

Nach den tödlichen Angriffen auf eine Demonstration am Donnerstag vergangener Woche in der libanesischen Hauptstadt Beirut ist eine scharfe Auseinandersetzung zwischen der Hisbollah und der Partei der Libanesischen Kräfte (FL) entbrannt. Verteidigungsminister Maurice Selim sprach laut Medienberichten von einem »unglücklichen Geschehen«.

Sieben Menschen waren durch gezielte Schüsse aus dem Hinterhalt von einem Hochhaus aus getötet worden, als sich der Demonstrationszug auf dem Weg zum Justizpalast befand. Bei den Angreifern handelte es sich offenbar um Scharfschützen, die auf Personen an der Spitze der Menge zielten. Bewaffnete Kräfte aus dem Umfeld der Demonstration nahmen die Schützen auf dem Hochhaus ins Visier. Die Armee griff ein und riegelte den Ort des Geschehens weiträumig ab.

Die Demonstration war von Schijah, einem schiitisch dominierten Stadtviertel im Süden Beiruts durch Tayouneh nach Ain Al-Rummaneh, einem christlich dominierten Viertel, gezogen, in dem das Justizministerium liegt. Der Protest richtete sich gegen den Richter Tarek Bitar, der im Fall der Explosion im Hafen der Hauptstadt im August 2020 ermittelt. Während Bitar von der einen Seite der Libanesen und Partnern im Ausland als »unbestechlich« und mutig dafür gefeiert wird, selbst die Hisbollah auf die Anklagebank für die Explosion im Hafen zu setzen, wird ihm von der anderen libanesischen Seite Einseitigkeit und Politisierung eines Verbrechens vorgeworfen.

Hisbollah und die Amal-Bewegung machten in einer gemeinsamen Stellungnahme die FL für den Angriff verantwortlich. Beide Organisationen riefen ihre Unterstützer auf, Ruhe zu bewahren und sich nicht zu »böswilligem Streit« provozieren zu lassen. Die Armee hat mittlerweile 20 Personen verhaftet, darunter mindestens acht Angehörige der FL.

Deren Präsident Samir Geagea verurteilte die Angriffe und machte dafür »unkontrollierten und weitverbreiteten Waffenbesitz« verantwortlich. Diese Waffen seien »eine Bedrohung für die Bürger überall und jederzeit«. Den Vorwurf von Hisbollah und Amal wies Geagea in einem Radiosender zurück. Man habe einen Tag vor der Demonstration mit anderen gleichgesinnten Gruppen darüber gesprochen, was man tun werde, falls es der Hisbollah gelingen sollte, Richter Bitar aus dem Amt zu drängen. Dabei habe man sich auf einen Streik geeinigt, sagte Geagea. Daß sich bewaffnete FL-Angehörige am Ort des Geschehens – in Ain Al-Remmaneh und in Tayouneh – aufgehalten hätten, sei normal, denn dort lebten Christen. Der Sicherheitskoordinator der FL habe die Armee aufgefordert, starke militärische Präsenz im Umfeld der Demonstration zu zeigen. »Unsere Priorität war, daß die Demonstration einfach vorüberziehen und den zivilen Frieden nicht gefährden sollte.« Die Armee habe Scharfschützen festgenommen. Man warte auf Auskunft darüber, wer sie seien und von wo sie gekommen seien, fügte Geagea hinzu.

Der der Hisbollah nahestehende Nachrichtensender Al-Manar und andere Medien verbreiteten mittlerweile die Namen der acht festgenommenen FL-Mitglieder. Darunter befindet sich auch der Sicherheitschef von Geagea.

Hussein Hajj Hassan, der für die Hisbollah im libanesischen Parlament sitzt, zeigte sich überzeugt, daß »die Kriminellen und Mörder von den Libanesischen Kräften« kommen würden. Der Widerstand, Hisbollah und die Amal-Bewegung würden sich nicht in einen Bürgerkrieg ziehen lassen.

Verteidigungsminister Selim hingegen präsentierte der Öffentlichkeit über den Fernsehsender LBC eine ganz andere Version des Geschehens. Die Demonstration sei vom Weg abgekommen, daraufhin seien Kämpfe ausgebrochen, sagte Selim. »Was genau geschehen ist, wird in der laufenden Untersuchung zu klären sein«, so der Minister weiter. »Mit Tatsachen und Beweisen werden die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen.«

Die einflußreiche Hisbollah auf der einen und die maronitisch-christliche Miliz und Partei der Libanesischen Kräfte auf der anderen Seite sind die sichtbarsten Kontrahenten in einem Fall, der die libanesische Gesellschaft tief gespalten hat. Zu den von Richter Bitar bisher mit Ermittlungen bis hin zu Haftbefehlen überzogenen Politiker handelt es sich um Hassan Diab, der von März bis August 2020 Premier war und das Amt anschließend kommissarisch ein Jahr fortführte, bis im September 2021 Nadschib Mikati als neuer Premier bestätigt wurde. Bitar ermittelt weiter gegen die früheren Minister Ali Hasan Khalil, Ghazi Zeiter, Nouhad Machnouk und Youssef Finianos. Einige von ihnen stehen unter USA-Sanktionen, weil sie – in ihrer politischen Eigenschaft – auch mit der Hisbollah zusammengearbeitet haben. Die von den USA als »Terrororganisation« gelistete Hisbollah war und ist als einflußreiche politische Kraft sowohl im libanesischen Parlament als auch in der Regierung vertreten.

Der Präsident der Hisbollah, Hassan Nasrallah, hatte Richter Bitar wiederholt aufgefordert, die politisch motivierten Ermittlungen einzustellen. Statt dessen solle untersucht werde, wie das hochexplosiven Ammoniumnitrat, das für die Explosion verantwortlich war, überhaupt in den Hafen von Beirut gelangen konnte.