Ausland03. September 2022

»Cristina ist noch am Leben, weil die Waffe nicht geschossen hat«

Argentiniens Vizepräsidentin entgeht Mordanschlag

von dpa/ZLV

Argentiniens Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner ist nach Angaben von Staatschef Alberto Fernández nur knapp einem Mordanschlag entgangen. Ein bewaffneter Mann habe der ehemaligen Präsidentin am Donnerstagabend (Ortszeit) vor ihrem Haus in Buenos Aires eine geladene Waffe ins Gesicht gehalten. Präsident Fernández berichtete später in einer Fernsehansprache an die Nation, der Angreifer habe bereits den Abzug gezogen. Es habe sich aber kein Schuß gelöst. Der mutmaßliche Attentäter wurde festgenommen. Fernández de Kirchner blieb Medienberichten zufolge unverletzt.

»Cristina ist noch am Leben, weil die Waffe, die fünf Kugeln enthielt, aus einem technisch noch nicht bestätigten Grund nicht geschossen hat, obwohl abgedrückt wurde«, erklärte der Präsident im Fernsehen. Fernández de Kirchner war Präsidentin Argentiniens von 2007 bis 2015 und hat als Vizepräsidentin weiter großen Einfluß in dem südamerikanischen Land. Sie steht für den linken Flügel der derzeitigen Regierungskoalition und war mit dem inzwischen verstorbenen früheren Präsidenten Néstor Kirchner verheiratet.

Auf Videos ist zu sehen, wie die Linkspolitikerin gegen 21 Uhr vor ihrem Wohnhaus im Stadtteil Recoleta eintrifft. Dort warten – wie seit Wochenbeginn – viele Anhänger auf sie, nachdem die Staatsanwaltschaft am Montag in einem von ihr als »Fiktion« bezeichneten Korruptionsprozeß eine Haftstrafe von zwölf Jahren sowie eine lebenslange Ämtersperre für sie gefordert hatte. Plötzlich zielt ihr jemand aus der Menschenmenge heraus aus nächster Nähe ins Gesicht. Sie duckt sich und hält sich schützend eine Hand vors Gesicht. Augenzeugen berichteten, auch das Abdrücken des Abzugs sei zu hören gewesen. Der 35 Jahre alte Mann, angeblich ein Brasilianer, sei von Anwesenden sowie den Leibwächtern der Vizepräsidentin überwältigt und später verhaftet worden. Zudem sei eine Pistole des Kalibers 32 gefunden worden. Die Hintergründe des Mordanschlags sind noch unklar.

Der amtierende Staatschef sprach von dem »schwerwiegendsten politischen Vorfall seit dem Ende der Militärdiktatur« (1976-1983) in Argentinien und erklärte den Freitag kurzfristig zum Feiertag, weil der soziale Frieden im Land gestört worden sei. Die Bevölkerung solle Gelegenheit bekommen, sich »in Frieden und Harmonie zur Verteidigung der Demokratie und des Friedens zu äußern« und Solidarität mit ihrer Vizepräsidentin zu bekunden.

Fernández de Kirchners Anwalt Gregorio Dalbón sagte örtlichen Medien, der Angriff sei ein Resultat des Hasses und öffentlicher Drohungen gegen sie. »Diese wurden bislang als Spaß abgetan«, kritisierte der Rechtsanwalt. Nun müsse alles vollständig aufgeklärt werden. In Medien wurde auch die Frage laut, wie es dem Angreifer trotz Kirchners Leibwächtern gelingen konnte, so nah an sie heranzukommen.

Vor Fernández de Kirchners Haus hatten sich in den vergangenen Tagen chaotische Szenen abgespielt. Viele Anhänger kampieren als Unterstützung für sie auf der Straße. In dem Korruptionsprozeß wird ihr vorgeworfen, Anführerin einer kriminellen Vereinigung gewesen zu sein und den Staat um umgerechnet etwa eine Milliarde Euro gebracht zu haben. Zusammen mit ihrem Mann habe sie einem befreundeten Bauunternehmer gegen Bezahlung eine Reihe öffentlicher Aufträge beschafft. Die Vizepräsidentin weist die Vorwürfe zurück und wirft der Justiz vor, aus politischen Motiven gegen sie zu ermitteln.

Schon zu Beginn 2019 hatte sie den Prozeß als »Akt der Verfolgung« bezeichnet, hinter der Expräsident Mauricio Macri (2015-2019) stehe. Macri repräsentiere »jene, die es auf alles abgesehen haben: die Löhne, die Arbeiterrechte und die der Rentner«. Dementsprechend gehe es nicht nur darum, »populäre Regierungen zu stigmatisieren oder mit illegalen Vereinigungen gleichzusetzen«.

Im nächsten Jahr wird in Argentinien eine neue Regierung gewählt. Daß die »Front aller« des amtierenden Präsidenten Fernández und seiner Vize Fernández de Kirchner wiedergewählt wird, ist keineswegs sicher. Das Land leidet unter einer schweren Wirtschaftskrise, die Gewerkschaften und linke Parteien fordern ein Ende der Rückzahlung der milliardenschweren IWF-Kredite und Soforthilfen für die verarmte Bevölkerung. Hinzu kommt ein schon seit Monaten zwischen dem Staatschef und seiner Vize schwelender Streit in der Regierungskoalition. Zumindest dieser Zwist ist nun in den Hintergrund getreten.