Ausland03. Juni 2021

Tödliche Umweltverschmutzung

Lange Haftstrafen für Besitzer und Manager des ILVA-Stahlwerks in Italien. Dioxin, Kohlenwasserstoffe und Schwermetalle verursachten viele Tote

von Gerhard Feldbauer

Nach einem fünfjährigen Prozeß hat ein Gericht in Taranto in der südlichen Region Apulien die früheren Eigentümer Fabio und Nicola Riva und mehrere Manager des größten Stahlwerkes Europas ILVA wegen schwerer Umweltverschmutzung zu außergewöhnlich hohen Haftstrafen verurteilt, berichtete die Nachrichtenagentur ANSA. Fabio und Nicola Riva erhielten 22 bzw. 20 Jahre Gefängnis, zwei frühere leitende Manager 21 Jahre beziehungsweise 21 Jahre und sechs Monate, und Giorgio Assennato, ehemaliger Generaldirektor der Umweltbehörde (Arpa) Apuliens, zwei Jahre.

Der frühere Präsident der Regional-Regierung von Apulien, Nicola Vendola, langjähriger Vorsitzender der Partei »Linke und Freiheit« (SEL), wurde wegen Amtsmißbrauchs und »verschärfter Erpressung im Wettbewerb« zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Insgesamt verhängte das Gericht Haftstrafen gegen 24 frühere Manager, Politiker und weitere Personen.

Insgesamt standen 44 Personen vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft hatte zusammengerechnet rund 400 Jahre Haft gefordert. Hunderte Privatpersonen, die Opfer der Vergiftungen wurden, sowie Vereinigungen und Verbände, in denen sie sich zusammenschlossen, traten als Nebenkläger auf. Die Angeklagten wurden für schuldig befunden, als kriminelle Vereinigung, die eine Umweltkatastrophe hervorgerufen und Nahrungsmittel vergiftet hat, gehandelt zu haben. Die Urteile in erster Instanz sind noch nicht rechtskräftig.

Über die Anfang der 60er Jahre von der Unternehmerfamilie Riva gegründeten ILVA-Stahlwerke hatte die Regierung in Rom 2015 wegen der starken Umweltverschmutzung die Kontrolle übernommen. 2018 hatte der in Luxemburg ansässige Konzern ArcelorMittal das Stahlwerk in Besitz genommen. Der mit 60 Unternehmen in über 20 Ländern und 320.000 Beschäftigten weltweit größte Stahlproduzent verpflichtete sich seinerzeit vertraglich, die marode Fabrik zum »modernsten Stahlwerk Europas« zu machen und das ganze Fabrikareal in eine »Green zone« zu verwandeln. Der italienische Staat beteiligte sich über seine Investmentfirma Invitalia mit 60 Prozent an dem Unternehmen, das für seine Verschmutzung der Umwelt bekannt war. Das Werk, das flächenmäßig zweieinhalb mal so groß ist wie die Stadt Taranto, beschäftigt derzeit noch 8.200 Arbeiter; hinzu kommen rund 6.000 Arbeitsplätze in etwa 150 Zulieferbetrieben.

Schon seit Jahren war die Hafenstadt Tarento mit ihren 200.000 Einwohnern dem Dioxin, polyzyklischen Kohlenwasserstoffen und den Schwermetallen ausgesetzt, mit denen das ILVA-Werk die Stadt vergiftet. Studien, die auf das Jahr 2012 zurückgingen, belegten, daß zahlreiche Menschen an Lungenkrebs, Leukämie und anderen bösartigen Tumoren oder an Herz-Kreislauferkrankungen gestorben waren.

Das Nationale Gesundheitsinstitut hat festgestellt, daß die Einwohner in Tarento zu 54 Prozent häufiger an Krebs erkrankten als in anderen Gegenden Apuliens. In Taranto gab es kaum eine Familie, die wegen der massiven Umweltverschmutzung nicht den Verlust eines Angehörigen wegen Krebs oder anderen Krankheiten zu beklagen hatte, die auf die Umweltschädigungen durch ILVA zurückzuführen waren. In diesem Zusammenhang soll es mindestens 400 Todesfälle gegeben haben. Im Stadtteil Paolo Sesto starben Kinder an Weichteilsarkom, einer seltenen Art bösartiger Tumore, die durch Dioxin verursacht werden. Käse und Miesmuscheln waren in der Region bis zu elf Mal stärker belastet als erlaubt.

Bereits 2019 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Italien wegen dieser anhaltenden Gesundheitsgefahren, gegen die der italienische Staat unzureichend vorgegangen sei und damit die Menschenrechte der Anwohner in der Nähe des Werks verletzt habe.

Zur Aufdeckung der Verbrechen an den Menschen hat vor allem die Basis-Gewerkschaft USB beigetragen, in der die meisten der Stahlwerker organisiert sind und die gleichzeitig den Kampf um sichere Arbeitsbedingungen und für den Erhalt der Arbeitsplätze führt. Einer ihrer Führer ist Riccardo Cristello, der seit Jahren die ungelösten Probleme des Unternehmens – von der katastrophalen Umweltverschmutzung über die soziale Lage der Beschäftigten, ihnen drohende Entlassungen bis zur Strukturierung des Unternehmens mit einem effektiven Umweltschutz – in der Öffentlichkeit und Medien anprangerte. Als er deswegen im April durch die Manager des Konzerns ArcelorMittal gefeuert wurde, traten die Stahlwerker in einen Proteststreik. Die »Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek« berichtete darüber in ihrer Ausgabe vom 15. April 2021.

Die Riva-Brüder haben die gegen sie erhobenen Anschuldigungen zurückgewiesen. Sie hätten immer wieder hohe Summen in das Werk investiert, um die Auflagen zu erfüllen. Dem gegenüber äußerte die Umweltorganisation Legambiente, mit dem Urteil werde der Beweis erbracht, daß es in Taranto eine Umweltkatastrophe gegeben habe, die von der Anlage des Stahlwerkes verursacht worden sei.