Ausland07. Januar 2025

Syrien nach dem Umsturz

von Karin Leukefeld, Damaskus

Auch einen Monat nach der Machtübernahme von Hay’at Tahrir as Scham (HTS) bleibt die Lage in Syrien unübersichtlich. Ende Dezember war unsere Nahost-Korrespondentin Karin Leukefeld in Damaskus unterwegs, um sich selbst ein Bild zu machen.

Zerstörungen

Viele staatliche Einrichtungen sind zerstört und wurden offenbar auch in Brand gesetzt: Polizeistationen und die alten Polizeifahrzeuge sind zerstört, auch das neue und modern eingerichtete Einwohnermeldeamt unweit von Zablatani ging in Flammen auf. Iranische Einrichtungen wie das Kulturzentrum am Marja Platz und die Iranische Botschaft in Mezzeh wurden ebenfalls angegriffen. Die Gebäude sind nun geschlossen und liegen verlassen.

Auch die schiitische Pilgerstätte unweit der Ommayyaden Moschee, die Moschee der Rukheyyeh und Geschäfte schiitisch-muslimischer Syrer in der Altstadt sind geschlossen. Schiitische Muslime gelten als »Iraner« und die sind offiziell nicht mehr erwünscht in Syrien. Der neu ernannte HTS-»Außenminister« fordert vom Iran 300 Milliarden US-Dollar ein, weil der Iran für die Kriegszerstörungen in Syrien verantwortlich sei.

Statuen der beiden ehemaligen Präsidenten Hafez und Baschar al Assad, und auch Mahnmale, die an die vielen getöteten Soldaten erinnern sollen, sind zerstört. In Latakia sei der Kopf einer Statue von Hafez al-Assad mit einem Auto durch die Straßen gezogen worden, berichtet eine Bekannte und zeigt einen Video Clip. Jubelnde Männer sind zu sehen, die sich darauf sitzend oder stehend mitziehen lassen. Die Bekannte schüttelt den Kopf. Bei aller Kritik an den Assads gehe ihr so eine Zerstörungswut zu weit, meint sie und murmelt: »Auch die Grabstätte von Hafez al-Assad wurde verwüstet.«

Die HTS-Führung lädt die Bevölkerung zu Kundgebungen ein, um den Sturz von Baschar al-Assad zu feiern. Am Abassiyeen-Platz marschieren verschiedene bewaffnete Verbände auf, vor dem Parlament im Zentrum der Stadt gibt es eine Kundgebung, um das Recht der Menschen einzufordern, die in den syrischen Gefängnissen verschwunden sind.

In Douma, einst größte Vorstadt von Damaskus in der östlichen Ghouta, versammelt sich Anfang des neuen Jahres eine kleine Demonstration um an die Entführung von vier Aktivisten zu erinnern, die am 9. Dezember 2013 aus dem Büro des »Dokumentationszentrums für Rechtsverletzungen« in Douma entführt worden waren. Razan Zaitouneh, ihr Ehemann Wael Hamadeh, die Rechtsanwältin Samira Khalil und Nazem Hammadi wurden von bewaffneten Kämpfern verschleppt. Erschienen später noch Fotos der beiden Frauen, die offenbar Straßen kehren mußten, fehlt von allen vier Personen bis heute jede Spur.

Angehörige der Entführten hatten zunächst die syrische Armee und den syrischen Geheimdienst verantwortlich gemacht, später aber hatten sie ihre Anschuldigungen dahingehend korrigiert, daß es bewaffnete Männer von »Jaish al-Islam«, einem von Saudi-Arabien finanzierten Kampfverband, gewesen waren, die ihre Angehörigen verschleppt hatten. Nicht nur Oppositionelle, sondern auch bis zu 2.000 Angestellte und Mitarbeiter der damaligen syrischen Regierung in staatlichen Betrieben in der Ghouta wurden von den bewaffneten islamistischen Regierungsgegnern entführt. Ihr Schicksal ist unbekannt, kaum jemand spricht heute noch von ihnen.

In der östlichen Ghouta

Die östlichen Vororte von Damaskus liegen in Trümmern. Vor dem Krieg standen hier dicht an dicht kleine, zumeist Familienwerkstätten. Hier wurden Möbel hergestellt, Autos repariert, hier wurde genäht und gestickt oder es wurden Lederwaren produziert.

Die Orte waren ursprünglich um einen historischen Dorfkern gebaut, denn die Dörfer lagen früher in der Ghouta, einer aus Feldern, Obsthainen und Wiesen bestehenden Oase, die mit dem Wasser des Barada-Flusses bewässert wurde. Der Fluß aus dem Anti-Libanon-Gebirge teilte sich unter Damaskus in zahlreiche unterirdische Wasserläufe, die Ghouta wurde mit dem Wachsen der Stadt zu einem Erholungsgebiet. Manch einer in Damaskus erinnert sich noch an die Zeit, als eine Straßenbahn dort hinausfuhr.

Die massive Landflucht – verursacht vor allem durch eine jahrelange Dürre und die Wasserknappheit – hatte Zehntausende Menschen in die Ghouta gebracht, die sich dort ohne Genehmigungen kleine Häuser und Hütten bauten. Die Dörfer der Ghouta wuchsen immer dichter zusammen und wurden schließlich zu dicht besiedelten Vorstädten, in denen bald mehr Menschen lebten, als in Damaskus selber.

2011 und 2012 wurden diese Vorstädte von verschiedenen bewaffneten Gruppen eingenommen und nach islamistischen Regeln regiert. Es folgten Jahre eines zermürbenden Kampfes zwischen den bewaffneten Islamisten und der syrischen Armee. Erst 2018 gelang es Rußland, der Türkei und Iran, die sich in der Astana-Gruppe zusammengeschlossen hatten, nach zähen Verhandlungen, den Abzug der Islamistenverbände zu erreichen. Hilfreich war, daß damals die arabischen Golfstaaten – vor allem Katar und Saudi-Arabien – ihre finanzielle Unterstützung an die Kampfgruppen einstellten. In Bussen wurden die Männer nach Idlib abtransportiert und hinterließen in der Östlichen Ghouta eine große Verwüstung. Nun sind sie zurückgekehrt und triumphieren über ein Ödland.

Die Kirchen von Harasta

In Harasta leben die Menschen in Ruinen. Die beiden Kirchen sind zerstört, in einer hatten die Islamisten einen Tunnel gegraben, um sich unter der Erde einen Weg nach Damaskus zu bahnen. Die Kirche des Heiligen Elias wurde militärischer Stützpunkt, das ausgehobene Erdreich war einfach in dem Kirchenschiff aufgetürmt worden.

Die Christen haben Harasta verlassen. Doch in der schmalen Straße, die an der zerstörten St. Elias Kirche vorbeiführt begegnet die Autorin einer Gruppe von Frauen, die bereitwillig auf ihre Fragen antworten. Es fehle an allem, sagen sie. Es fehle Strom, nur nachts gebe es Strom manchmal für eine Stunde, sagt eine der Frauen, und alle nicken. Ihre Wohnung sei dunkel, kaum Sonne komme hinein. Ihre Mutter sei blind, es gebe keine Medikamente.

Die Frauen klagen darüber, daß es nicht genug zu essen gebe für die Kinder, die doch noch wachsen müßten. Kleidung und Schuhe für die Kinder seien teuer. Ja, eine Schule gebe es und ihr Mann und ihr Sohn arbeiteten beide im Krankenhaus von Harasta, sagt eine der Frauen mit sorgenvoller Stimme: »Aber der Lohn reicht nicht und in diesem Monat wissen wir nicht, ob sie überhaupt ihr Geld bekommen.« Zum Glück gebe es eine Hilfsorganisation, die einmal in der Woche an die Bedürftigen kostenlos Brot verteile. Sie sei gerade auf dem Weg dorthin.

Die Frau geht voraus, um ihre Ration Brot abzuholen. Sie legt ihre Ausweispapiere vor, die Helfer kontrollieren den Namen auf einer Liste. Berechtigt für die Brotspende sind alte Menschen, verwitwete und geschiedene Frauen, Familien, die einen Kranken pflegen müssen, Waisenkinder und Menschen, die eine physische oder psychische Krankheit haben. Gespendet werde das Brot von »guten Menschen aus Damaskus«, sagt der Leiter der Organisation, Herr Abu Imad, der früher im örtlichen Elektrizitätswerk arbeitete. Ob er einen Namen eines solchen »guten Menschen« nennen könne? Nein, die Spender wollten anonym bleiben, doch jedes Mal würden 1000 bis 1500 Rapta Brot gespendet.

Ein Rapta Brot besteht aus sieben Brotfladen und soll nach Vorschrift 1500 Gramm wiegen. Vor HTS kostete ein Rapta 400 Syrische Pfund und die Familien erhielten je nach Größe täglich mindestens ein Rapta zugeteilt. Heute muß man pro Rapta 4000 Syrische Pfund bezahlen.

Ein Mann mit weißem Haar steht etwas abseits und hört dem Gespräch zu. Er sei einer der »guten Menschen«, erfährt die Autorin später. »Er kommt morgens früh mit dem Brot und bleibt immer so lange, bis das letzte Brot verteilt ist«, heißt es. So könne er sicherstellen, daß das Brot auch bei den Bedürftigen ankomme.

Die Rückfahrt nach Damaskus führt über die Autobahn, die Aleppo, Hama und Homs mit Damaskus verbindet. Dort, wo die Autobahn sich in eine Umgehungsstraße Richtung Flughafen und die Straße Richtung Damaskus Innenstadt teilt, steht seit vielen Jahren ein großes Mosaik, das Hafez al Assad und die landschaftliche, fruchtbare Weite Syriens zeigt. Obwohl das große Monument genau auf der Frontlinie zwischen den östlichen Vororten und der Stadt von Damaskus steht, hatte es die langen Jahre des Krieges unbeschädigt überstanden. Doch nun haben Unbekannte das Mosaik mit der neuen Fahne übermalt und in großen Buchstaben »FREE« daneben geschrieben. Auf Englisch, nicht Arabisch.

Die Synagoge von Jobar

Kurz vor Damaskus und nicht weit vom Bab Touma, dem Thomas-Tor entfernt, einem der Zugänge in die Altstadt, liegt Jobar. Der Vorort bot einst günstigen Wohnraum für junge Leute, die in der Stadt arbeiteten oder studierten. In Jobar gab es zudem eine der ältesten Synagogen der Region, selbst eine kleine jüdische Gemeinde war in Syrien geblieben. Die alten Leute wohnten meist zurückgezogen in ihren Häusern in der Altstadt.

Heute ist Jobar zerstört und – bis auf einige Werkstätten in den Randgebieten – völlig verlassen. Mit Hilfe eines Stadtplans gelingt es, den Standort der Synagoge zu finden. Auch andere Journalisten sind schon da. Auf einem Trümmerberg steht ein Kollege der Nachrichtenagentur AP mit einem Kameramann, einem Begleiter und einem freundlich lächelnden weißhaarigen Mann, der sich als Bakchour Chamatoub vorstellt. Er sei 74 Jahre alt »und single«, grinst er verschmitzt. Und er sei einer der verbliebenen Juden in Syrien. Auf die Frage, wie viele denn geblieben seien, meint er »neun oder zehn«.

Das Gebäude der Synagoge ist zerstört, auch eine nahegelegene Schule hat den Krieg nicht überstanden. Was genau geschehen ist, wisse er nicht, sagt Herr Chamatoub. Doch eine alte Thora, die sich in der Synagoge befand, habe man in der Türkei einer Gruppe von kriminellen Schmugglern abgenommen. Da der AP-Journalist sein Gespräch mit Herrn Chamatoub noch nicht beendet hat, tauscht die Autorin Telefonnummern aus und man verabredet sich für ein anderes Mal.

Vor dem zerstörten Gebäude der Synagoge steht ein Mann, der trotz des strahlenden Sonnenscheins eine warme Wollmütze auf dem Kopf trögt. Mohamed Ali Kassem war 25 Jahre lang Wächter in der Schule, die zur Synagoge gehörte. Doch nun liege alles in Trümmern. Der Garten, den er mit dem Wächter der Synagoge angelegt hatte und wo sie oft bei einem Tee zusammensaßen, sei vertrocknet. Ob er glaube, das Jobar wiederaufgebaut werde? »Sehen Sie sich um, alles liegt in Trümmern. Wir haben kein Geld, keine Baugeräte und kein Baumaterial. Das Ausland streitet sich darüber, wer was in Syrien zu sagen hat. Was denken Sie? Wer soll Jobar wiederaufbauen?!«