Ausland08. Februar 2022

Mit Streiks zu Erfolgen

Mehr Lohn und bessere Bedingungen gefordert: Ausstand in der Abfallwirtschaft Marseilles. Stadt versinkt im Schmutz, Bosse lassen sich Zeit

von Hansgeorg Hermann, Paris

Frankreichs Wirtschaft brummt, Konzerne fahren enorme Gewinne ein, im April wird die Staatsführung gewählt – beste Zeit für Lohnforderungen. In Marseille haben die Müllentsorger in den vergangenen Tagen zum vierten Mal innerhalb eines Monats gestreikt, die Hafenmetropole am Mittelmeer erstickt unter dem Abfall. In Paris legten die Beschäftigten der staatlichen Arbeitsagenturen – Pôle emploi – für eine »signifikante Erhöhung« der Gehälter die Arbeit nieder. Die Gewerkschaft Force Ouvrière (FO) meldete Anfang Februar einen bescheidenen Erfolg: Die Lohnabhängigen, die in Marseille täglich rund 1,6 Millionen Menschen den Dreck wegräumen, hatten 80 Euro mehr pro Monat gefordert, die vorläufig vereinbarte Erhöhung beträgt erst mal nur 40 Euro.

Das internationale Großunternehmen Derichebourg mit Niederlassungen in Deutschland, Mexiko und den USA, ist in Frankreich ein Monopolist in Sachen Abfallbeseitigung. Ein ständig wachsender Gigant mit einem Jahresumsatz von rund 2,5 Milliarden Euro und weltweit rund 42.000 Beschäftigten, der auch in Paris, Lille oder Lyon für den Fuhrpark und das Personal aufkommt und der in der Vergangenheit immer wieder mit Stellungnahmen auffiel, die gegen seine Lohnabhängigen gerichtet waren. Schwere Nachtarbeit beschrieb das Unternehmen als »Vier-Stunden-Job«, für den Monatsgehälter von bis zu 2.500 Euro brutto bezahlt würden. In dem von Derichebourg ausgeklügelten Lohnsystem spielen nach Angaben der Gewerkschaften allerdings Prämien für zusätzliche Arbeitseinsätze eine entscheidende Rolle. Ohne die, berichtete die Wirtschaftszeitung »Capital« bereits im Oktober 2017, erreichten die Beschäftigten bisweilen nicht einmal den gesetzlichen Mindestlohn von 1.600 Euro im Monat.

Die nun vereinbarte, äußerst bescheidene Lösung sollte innerhalb einer Woche in Kraft treten, während dieser Frist sollte auch der Streik offiziell beendet werden. Die Einwohner der Stadt Marseille leiden seit Jahrzehnten unter mafiösen Verwaltungs- und Unternehmensstrukturen, die neben dem Wohnungsbau vor allem auch die Abfallbeseitigung betreffen. Bürgerinitiativen wie die »Poubelle la vie« versuchen gegenwärtig, am Monopol von Unternehmen wie Derichebourg zu rütteln und die Entsorgung anders zu organisieren. Die mehr als 25 Jahre von rechtskonservativen Stadträten und deren Spitzenmann Jean-Claude Gaudin regierte Metropole wurde regelmäßig von Korruptionsskandalen erschüttert, in die allerdings auch Provinzpolitiker des Parti Socialiste (PS) verwickelt waren.

Seit Dezember 2020 ist der Sozialdemokrat Benoît Payan Bürgermeister, doch geändert hat sich zum Bedauern der Bürgerbewegungen bisher nicht viel. Nach Angaben der FO unterschreibt Derichebourg immer wieder Vereinbarungen im Sinne der Lohnabhängigen, ohne sie jedoch anschließend einzuhalten. Vor allem sei das Unternehmen in den vergangenen Wochen der strikten Forderung aller beteiligten Gewerkschaften, die gesetzlich verankerte 35-Stunden-Woche zu respektieren – gestreikt wurde daher seit dem 18. Dezember – nicht nachgekommen.

Die Müllberge, derzeit rund 3.000 Tonnen, die sich seither in Marseille stapeln, sind in diesen Tagen nicht nur ein enormes Hygieneproblem für die Menschen. Ökologen beklagten zu Beginn des Monats auch eine andere »Umweltkatastrophe«: Im Département wurde die gelbe Warnstufe für starke Winde ausgerufen. Es wurde befürchtet, daß der Müll in den Straßen vom starken Mistral ins Mittelmeer geweht werden könnte.

Die Beschäftigten der staatlichen Arbeitsagenturen in Paris und in den Provinzniederlassungen verlangten nicht nur mehr Lohn, »signifikante Erhöhungen«, wie die Gewerkschaften in einem gemeinsamen Kommuniqué erklärten, sondern auch bessere Arbeitsbedingungen – mehr Personal vor allem –, die eine »humanitäre« Behandlung ihrer Klientel ermöglichten. Nach Angaben von Gewerkschaften kümmern sich einzelne Agenten gegenwärtig um bis zu 300 Arbeitsuchende.