Geschichtspolitische Vereinnahmung des Streikdenkmals in Wiltz
An einem warmen Herbsttag, am 30. September 1956, wurde in Wiltz das »Monument National de la Grève« nach zweijähriger Bauzeit feierlich eingeweiht – in Anwesenheit ausländischer Delegationen, darunter auch einer sowjetischen, ungeachtet des Kalten Kriegs. Der Standort für das Denkmal, das an den Generalstreik der Luxemburger im August/September 1942 gegen die »Wehrpflichtbestimmungen« der Nazis und die darauffolgende blutige Unterdrückung erinnert, konnte symbolischer nicht sein: An der Schnittstelle zwischen Ober- und Unterstadt, dort wo die »Knabenschule« stand, die durch die Ardennenoffensive zerstört wurde – wie rund 80 Prozent der kleinen Industriestadt, die seither den Titel »ville martyre« trägt.
Interessant auch die damaligen Reden: Während Innenminister Pierre Frieden hervorhob, dieses »bescheidene Denkmal« sei nicht den Triumphbögen siegreicher Armeen gleichzusetzen, sondern als Erinnerung an die moralische Kraft des Widerstands und als Mahnmal für künftige Generationen zu verstehen, betonte Bürgermeister Nic. Kreins, die Welt könne nicht mit Gewalt, sondern nur mit Freundschaft und Einigkeit aufgebaut werden.
An diesem Erinnerungsort, der wie kein zweiter in Luxemburg unmissverständlich (!) für Zivilcourage sowie friedlich-solidarischen Protest gegen Willkür und Kriegspolitik steht, fand am gestrigen Freitag die 206. Eidablegung der Luxemburger Armee statt. Nun gehört ein Rekrutengelöbnis zu den Standard-Riten einer Armee. Für das luxemburgische Militär gäbe es bestimmt geeignetere Orte, etwa die Kaserne in Diekirch oder den »Krautmarkt« mit dem Palais seines Oberbefehlshabers in Luxemburg-Stadt. Kurzum: Wenn die Luxemburger Armee ihren Eid auf dem Vorplatz des Wiltzer Streikdenkmals ablegt, dann handelt es sich um eine nahezu beispiellose geschichtspolitische Vereinnahmung – gerade in Zeiten, in denen die EU, nachdem diese in sämtlichen Krisen gescheitert ist, außer bei der Zufriedenstellung der Kapitalisten, und die NATO, unter deren Kommando die »Arméi« steht, ihr Heil ausschließlich in der materiellen Kriegsvorbereitung und geistigen Mobilmachung sehen.
Unstrittig ist: Das Wiltzer Monument erinnert nicht an militärische Tapferkeit, sondern an den zivilen Mut der Luxemburger, die 1942 kollektiv die Zwangsrekrutierung durch die faschistische Besatzungsmacht verweigerten. Es steht für Widerstand gegen Militarisierung und für die Verteidigung demokratischer Selbstbestimmung. Mit der militärischen Zeremonie wird die Symbolik jedoch ins Gegenteil verkehrt: Ein Mahnmal gegen Wehrpflicht und Krieg wird zur Kulisse für die Legitimierung des Ausbaus heutiger militärischer Strukturen und der Rekordaufrüstung mitsamt der von EU/NATO vorgeschriebenen Feindbildpflege.
Was hier geschieht, ist mehr als ein Missverständnis der historischen Botschaft – es ist eine bewusste Umdeutung und damit eine Entwertung des Erinnerungsortes, eine Instrumentalisierung der Vergangenheit, die die historisch-kulturelle Integrität des Denkmals verletzt.
Dass sich in der heutigen sogenannten »Zivilgesellschaft«, zu der sich auch die Gewerkschaften, die »Friedensplattform« und andere – zumindest auf dem Papier – für Frieden und Kooperation einstehende Organisationen zählen, gegen solche Vereinnahmungen kein Widerstand regt, ist besorgniserregend. Umso wichtiger der Aufbau einer breit aufgestellten Friedensbewegung, die öffentlichkeitswirksam vor der politischen Kaperung der Erinnerungskultur warnt, sich mit aller Kraft gegen Aufrüstung sowie »Kriegstüchtigkeit« stemmt und sich für echte Friedenspolitik engagiert. Denn im nächsten großen Krieg werden die Lebenden die Toten beneiden.

