Willkür und Ghettoisierung
Griechenland dient der EU als Schutzwall und Verschiebebahnhof für Flüchtlinge. Der überforderte Balkanstaat reagiert mit noch stärkeren Repressionen gegen entrechtete Asylbewerber
In einigen Vierteln des Athener Stadtzentrums herrschen Zustände, wie man sie sonst aus Flüchtlingslagern in der sogenannten Dritten Welt kennt: Tausende Flüchtlinge versuchen, sich ohne jegliche staatliche Hilfe durchzuschlagen. Hauptsächlich Menschen aus Asien und Afrika, vor allem Bangladesh, Pakistan, Afghanistan und Somalia hausen unter erbärmlichen Umständen mitten in einer Metropole der »Ersten Welt«.
In der Hafenstadt Patras sieht man die gleichen Bilder: Tausende Obdachlose halten sich dort in der Hoffnung auf, irgendwie aus Griechenland wegzukommen und nach Italien oder in nordeuropäische Staaten zu gelangen. Anstatt diesen Zuständen zu begegnen, hat die griechische Regierung nun ein verschärftes Migrationsgesetz vorgelegt, das hohe Strafen für »illegale« Einwanderer und Schleuser vorsieht und Beschwerden gegen ablehnende Asylbescheide ausschließt.
Drecksarbeit für die EU
Griechenland ist mit der Organisierung einer humanitären und effektiven Asylpolitik heillos überfordert. Für das Desaster, dem Jahr für Jahr Zehntausende Flüchtlinge ausgesetzt werden, ist aber nicht nur die griechische Regierung verantwortlich. Die Hauptursache liegt vielmehr in der Flüchtlingspolitik der EU. Denn Staaten wie die BRD schicken regelmäßig noch zusätzliche Flüchtlinge nach Griechenland. Anstatt in der EU Schutz zu erhalten, landen sie in einem großen Verschiebebahnhof, in dem sie letztlich sich selbst überlassen und »illegalisiert« werden.
Ausschlaggebend dafür sind die »Abkommen«. Sie regeln die »Verteilung« von Flüchtlingen über die EU und basieren auf der in Deutschland 1993 entwickelten Abwehrstrategie der »sicheren Drittstaaten«. Die reichen Staaten in der Mitte Europas wälzen die Flüchtlingsproblematik auf die am Rande liegenden Länder ab. Griechenland ist gehalten, seine Außengrenze komplett dichtzumachen. Ein Ansinnen, das angesichts der zahlreichen Inseln in der Ägäis von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Aufgrund der geographischen Lage kommen besonders viele Flüchtlinge in Griechenland an.
Seit im März 2003 das »Dublin-II«-Abkommen in Kraft getreten ist, hat sich die Lage noch verschärft. Jeder Asylsuchende darf in der EU nur in jenem Land einen Asylantrag stellen, das er zuerst betritt. Reist er in ein anderes EU-Land weiter und stellt dort seinen Asylantrag, wird er »rücküberstellt«. Für Länder wie Griechenland, aber auch andere Mittelmeeranrainer, bedeutet dies, daß sie im EU-Vergleich eine überproportionale Zahl von Asylanträgen bearbeiten und Flüchtlinge unterbringen müssen.
Im Jahr 2008 wurden in Griechenland knapp unter 20.000 Asylanträge gestellt, im ersten Quartal 2009 waren es 6.379 Anträge. Umgerechnet auf die Einwohnerzahl von 11 Millionen verzeichnet Griechenland mehr als fünfmal so viele Asylanträge wie die BRD.
Asylanhörung als Lotterie
Im Jahr 2008 wurden aus der gesamten EU 5.159 Flüchtlinge nach Griechenland »rücküberstellt«. Für die betroffenen Menschen bedeutet das de facto eine Abschiebung in die Rechtlosigkeit. Das zeigt sich schon daran, daß die »Dublin-II-Flüchtlinge« am Athener Flughafen erst einmal für drei Tage inhaftiert werden. So lange dauert der Abgleich der Fingerabdrücke und manchmal die Beiziehung eines Dolmetschers. Noch am Flughafen findet – ohne Rechtsbeistand – eine Befragung zu den Asylgründen statt. Dieses für das weitere Asylverfahren so bedeutsame Erstinterview wird von einem Polizeibeamten durchgeführt.
Anschließend entscheidet das Polizeipräsidium über den Asylantrag. Die Ablehnungsquote liegt in diesem Verfahrensstadium bei 99,98 Prozent! Flüchtlingsorganisationen berichten, unter der Hand sei ihnen bedeutet worden, daß es von oben her gewünscht sei, zunächst einmal praktisch alle Asylgesuche zurückzuweisen. Die Asylbewerber konnten sich nach der ersten Ablehnung durch die Polizei an eine Beschwerdekommission wenden, in der wiederum die Polizei das Sagen hat. Hier werden die Asylgründe nur geringfügig sorgfältiger geprüft, die Ablehnungsquote beträgt immer noch 98 Prozent, doch manchmal wird eine Art Duldung erreicht.
Das größte Manko liegt in einem Kapazitätsengpaß bei der zentralen Asylbehörde. 95 Prozent aller Flüchtlinge müssen in der Petrou Ralli 24 in Athen-Tavros vorstellig werden, für die anderen fünf Prozent ist die Außenstelle in Thessaloniki zuständig. Nur dort können überhaupt Asylanträge gestellt werden. Lediglich die Anträge der »Rücküberstellten« werden von der Polizei am Flughafen entgegengenommen. Aber auch diese Flüchtlinge müssen anschließend die Petrou Ralli aufsuchen, um – falls vorhanden – einen Wohnsitz in Griechenland registrieren zu lassen, denn nur dann kann das Beschwerde- oder Klageverfahren durchgeführt werden.
Das ist die Theorie – in der Praxis jedoch herrscht das reinste Chaos. Denn das erstmalige Vorsprechen zum Stellen eines Asylantrags ist nur an einem Samstag möglich. Demzufolge stehen ab Freitagnachmittag regelmäßig bis zu 3.000 Flüchtlinge vor dem Gebäude Schlange. Aber nur dreihundert von ihnen werden vorgelassen, weil mehr Anträge während einer Woche gar nicht bearbeitet werden können. Es kommt, wenig überraschend, zu Aggressionen, auch zu Übergriffen der Polizei, und es gab auch schon zwei Todesfälle.
Ohnehin sind die Chancen in der Petrou Ralli dürftig. Von den 25.000 Anträgen im Jahr 2007 wurden 14.000 bearbeitet – und es gab ganze 140 Anerkennungen! Es ist kein Wunder, daß viele Flüchtlinge diese Mischung aus Willkür und Lotterie nicht auf sich nehmen oder das endlose Schlangestehen in Athen irgendwann abbrechen. Wer nicht in das Verfahren gelangt, wird nach sechs Monaten Fristablauf genauso illegalisiert wie diejenigen, deren Antrag rechtskräftig abgelehnt ist.
Viele Flüchtlinge versuchen daher, in andere EU-Staaten zu gelangen. Wer sich als »Illegaler« in Griechenland durchzuschlagen versucht, dem drohen Festnahme und Abschiebehaft. Diese ist auf drei Monate beschränkt. Kommt in dieser Zeit eine Abschiebung nicht zustande, wird der Betroffene freigelassen, kann aber jederzeit wieder für drei Monate inhaftiert werden. Somit entstehen völlige Rechtlosigkeit und Unsicherheit.
Hinzu kommt, daß der griechische Staat keine Unterkünfte für die Asylbewerber bereitstellt. Flüchtlinge sind deshalb häufig obdachlos und leben praktisch in Ghettos, ohne jegliche sozialstaatliche Unterstützung. Die Ghettoisierung ruft wiederum Feindseligkeiten und rassistische Übergriffe seitens der griechischen Bevölkerung hervor. Die Polizei führt Razzien durch, und rechtsextreme Banden machen Jagd auf Migranten. Die krisenhafte Zuspitzung drückte sich in einem Anstieg der Stimmen für die rassistische Partei LAOS auf über sieben Prozent bei der EU-Wahl aus.
EU will Repression verschärfen
Die Regierung schätzt – offenbar absichtsvoll übertrieben – die Zahl der Illegalisierten in Griechenland auf etwa 1,5 Millionen Menschen, 140.000 kämen jedes Jahr neu hinzu. Realistischer sind Schätzungen von etwa 400.000 Menschen.
Man versichert, Methoden wie in Italien, das kurzerhand Flüchtlingsschiffe nach Libyen zurückschickt, wolle man nicht anwenden. Allerdings gibt es Berichte, daß nun auf abgelegenen Inseln in der Ägäis streng bewachte Aufnahmelager eröffnet werden sollen, wo Flüchtlinge bis zu ihrer Abschiebung quasi interniert werden.
Die unhaltbaren Zustände der griechischen Asylpolitik haben mittlerweile zu Konsequenzen geführt. – Es wird noch schlimmer. Man plant, zwecks Verfahrensbeschleunigung die beiden Verwaltungsinstanzen zusammenzufassen. Ende Juni hat das griechische Parlament ein neues Migrationsgesetz verabschiedet. Danach ist die Berufung gegen die Ablehnung eines Asylantrages in der ersten Instanz nur noch bei Verfahrensfehlern möglich. Damit wird sogar EU-Recht in Frage gestellt.
Griechenland ist verpflichtet, jegliche Weiterreise der Illegalisierten in andere EU-Staaten zu verhindern. Die meisten Migranten betrachten Griechenland eigentlich nur als Transitstation. Ihre Zielländer sind die BRD, Schweden, Großbritannien und Frankreich. Die anderen EU-Länder weigern sich aber, eine Zuwanderungsquote zuzulassen oder wenigstens einem gerechteren Verteilungsschlüssel zuzustimmen. Deshalb halten sich Hunderttausende in Griechenland auf, die gar nicht bleiben wollen und auf die Griechenland nicht vorbereitet ist.
Die griechische Regierung fühlt sich von der EU alleingelassen. Beklagt wird auch die mangelnde Kooperationsbereitschaft der Türkei. Da müsse die EU Druck machen, da ja die Türkei Beitrittskandidat sei, fordern griechische Politiker. Sie plädieren sogar für einen Beitritt der ansonsten eher feindselig eingeschätzten Türkei in die EU. Dann wäre nämlich Istanbul zuständig für die Abriegelung der EU-Außengrenzen.
Engagierte Menschenrechtler wie der Anwalt Achim Rollhäuser machen allerdings auch dem griechischen Staat Vorwürfe. Dieser habe »systematisch eine hochexplosive Situation geschaffen«, so Rollhäuser: »Er hat ein Asylrecht und ein Asylverfahren eingerichtet, das diesen Namen nicht verdient. Es ist ein System, das die Flüchtlinge in die Illegalität und Kriminalität treibt« Die EU und »wohlhabende« Staaten müßten akzeptieren, »daß sie Einwanderungsländer sind, für gesteuerte und ungesteuerte Einwanderung.«
Die Lösung sieht Griechenland allerdings nicht in einer Liberalisierung der Flüchtlingspraxis, sondern im Ausbau der Repression. So verlangt das griechische Innenministerium von anderen EU-Ländern noch stärkere Beteiligung an der EU-Grenzschutzagentur »Frontex«, Hilfe bei der Ausstellung von Paßersatzpapieren, mehr technisches Gerät wie Detektoren, um Menschen in Lkw aufzuspüren, oder Nachtsichtgeräte, um Flüchtlinge im östlichen Mittelmeer zu erkennen und von den griechischen Grenzen abzudrängen. Doch da manche griechische Ägäisinseln nur wenige Kilometer von der türkischen Küste entfernt liegen, ist eine Abriegelung ohnehin unmöglich.
Konzept der »Festung Europa« ist gescheitert
Rücküberstellungen von Flüchtlingen nach Griechenland belasten nicht nur die griechischen Behörden zusätzlich, sondern sie sind schlichtweg Unrecht. Die anderen EU-Staaten sind laut »Dublin-II« keineswegs gezwungen, in jedem Fall die Rücküberstellungen vorzunehmen. Sie können davon absehen und das Asylverfahren selbst durchführen. Diese Vorgehensweise wäre immer dann geboten, wenn das Land, in das abgeschoben wird, kein reguläres Asylverfahren garantiert oder die Asylsuchenden nicht menschenwürdig unterbringt.
Genau dies ist in Griechenland der Fall. Das Land hat nicht die Kapazität, um zu den jährlich 20.000 »eigenen« Asylfällen auch noch weitere Anträge von Flüchtlingen, die sich schon in anderen Ländern aufhalten, korrekt zu bearbeiten. Auch das Hohe Flüchtlingskommissariat der UNO fordert die Aussetzung von Rücküberstellungen nach Athen.
Eine der wichtigsten Aufgaben der neuen Ratspräsidentschaft der EU wäre eine radikale Abkehr von der verfehlten und inhumanen europäischen Abschottungspolitik gegenüber Flüchtlingen. Das Konzept der »Festung Europa«, mit dem die reichen EU-Mitgliedstaaten versuchen, Schutz suchende Menschen mit immer perfekteren Mechanismen schon an den Außengrenzen der EU von einer Einreise abzuhalten, ist gescheitert. Mit polizeilich-militärischen Instrumenten wie der sogenannten EU-Grenzagentur Frontex läßt sich auf die Dauer keine Flüchtlingspolitik gestalten. Solange die EU nicht das Problem angeht, die Fluchtursachen in den Herkunftsländern zu beseitigen, sondern im Gegenteil durch ihre wirtschaftlich expansive Politik die Fluchtursachen noch verschärft, wird es immer Menschen geben, die eine Zukunftsperspektive für sich nur noch durch Migration nach Europa sehen.
Die Probleme, welche die Flüchtlingspolitik der EU Griechenland bereitet, sind vor dem Hintergrund der weltweiten Flüchtlingsbewegungen zu sehen. Aus dem Bericht »Global Trends« des UNO-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) vom Mai 2009 ergibt sich die Dramatik der Situation. Demnach waren im Jahre 2008 insgesamt 42 Millionen Menschen auf der Flucht vor Verfolgung, gewaltsamen Konflikten, Krieg und Menschenrechtsverletzungen. Insgesamt gab es Ende letzten Jahres 16 Millionen Flüchtlinge und Asylsuchende sowie 26 Millionen Binnenvertriebene, also Menschen, die innerhalb ihres Heimatlandes fliehen mußten.
Die Hauptherkunftsländer von Flüchtlingen waren Afghanistan (2,8 Millionen) und Irak (1,9 Millionen), gefolgt von Somalia (561.000), Sudan (419.000), Kolumbien (374.000 und der DR Kongo (368.000). UNO-Flüchtlingskommissar António Guterres wies darauf hin, daß der Bericht die Zahlen bis Ende 2008 zusammengefaßt habe, doch seither habe es neue Massenfluchtbewegungen gegeben, vor allem in Pakistan, Sri Lanka und Somalia. Gerade aus diesen Ländern finden sich auch viele Schutzsuchende in Griechenland.
Dennoch sind die Asylbewerberzahlen in der EU vergleichweise niedrig, wenn man die Daten anderer Länder als Vergleich nimmt. Die Zahl der Asylsuchenden ist 2008 im Vergleich zu 2007 weltweit um 28 Prozent auf 839.000 gestiegen. Die meisten Anträge wurden in Südafrika (207.000) und in den USA (49.600, UNHCR-Schätzung) gestellt. Deutschland und Österreich lagen 2008 mit insgesamt 22.085 bzw. 12.841 Asylanträgen deutlich dahinter. Diese Zahlen zeigen, daß weltweit eine Politik betrieben werden müßte, die bei den Fluchtursachen ansetzt – das heißt letztlich: gegen Krieg, Ausbeutung und die Verheerungen durch den Klimawandel vorzugehen. Verschiebebahnhöfe wie »Dublin II« sind jedenfalls keine Lösung, sondern sorgen durch die übermäßige Belastung der schwächeren EU-Staaten nur für eine Verschlimmerung der Situation für die Flüchtlinge.
*Ulla Jelpke reiste im Juni mit einer Delegation des Innenausschusses des deutschen Bundestages nach Griechenland
Ulla Jelpke*, Berlin