Ausland26. Juni 2021

Rußland pocht im UNO-Sicherheitsrat auf Souveränität Syriens. Westliche Mitglieder wollen Al-Qaida-Ableger HTS Einnahmequelle erhalten

Humanitäre Korridore für Dschihadisten

Karin Leukefeld, Damaskus

Im UNO-Sicherheitsrat ist am Mittwoch turnusgemäß über die humanitäre Lage in Syrien debattiert worden. Im Hintergrund stehen dabei geostrategische Interessen. 2014 hatte der Rat per Resolution eine jeweils auf ein Jahr befristete Einrichtung von vier »humanitären Korridoren« aus den Nachbarländern Jordanien, Irak und Türkei nach Syrien in Gebiete beschlossen, die damals unter der Kontrolle bewaffneter Regierungsgegner standen. Lebensmittel und Medikamente wurden mit Lastwagenkonvois über die Grenzen gebracht, ohne daß der syrische Staat den Inhalt dieser Lieferungen kontrollieren konnte. Damit wurde Syrien das Recht genommen, die eigenen Grenzen zu kontrollieren. Die Regierung in Damaskus protestierte vergeblich dagegen.

Die aktuelle Resolution für den Zeitraum 2020/2021 läuft am 10. Juli aus, doch es ist unklar, ob ein Konsens über eine erneute Verlängerung der Regelung für ein weiteres Jahr gefunden werden kann. Zu den Befürwortern zählen im UNO-Sicherheitsrat die Vetomächte USA, Britannien und Frankreich. Auch der Generalsekretär António Guterres und mehrere Hilfsorganisationen der UNO sowie internationale und private NGO (»Nichtregierungsorganisationen«) warnen vor einer »Katastrophe für die notleidende Bevölkerung«, sollten die grenzüberschreitenden Hilfslieferungen eingestellt werden.

Rußland ist gegen ihre erneute Verlängerung und könnte die grenzüberschreitenden Hilfslieferungen mit seinem Veto auch verhindern. Moskau argumentiert mit dem humanitären Völkerrecht, wonach Damaskus für die Koordination von humanitärer Hilfe im ganzen Land zuständig sei. Hilfe solle über die innersyrischen weitgehend beruhigten Frontlinien verteilt werden. Das wird vom Westen aber mit der Begründung abgelehnt, eine vom syrischen Staat organisierte Hilfe erreiche nicht alle Menschen in Not.

Der russische Außenminister Sergej Lawrow wandte sich in einem Schreiben, aus dem dpa am Mittwoch zitierte, an UNO-Generalsekretär Guterres, um die Haltung Moskaus zu erläutern. Rußland könne »den Einschätzungen nicht zustimmen, daß es keine Alternative zum grenzüberschreitenden Mechanismus in Syrien gibt, über den die humanitäre Hilfe Idlib erreicht«. Guterres hatte zuvor »frontüberschreitende« Lieferungen nicht ausgeschlossen, erklärte am Mittwoch jedoch, diese könnten »niemals das Niveau der grenzüberschreitenden Hilfe erreichen«.

Mit dem deutlichen Abnehmen bewaffneter Auseinandersetzungen seit 2018 und vermehrten Hilfslieferungen innerhalb des Landes wurden drei der vier »Korridore« geschlossen. Der einzige Weg, auf dem aktuell etwa 1.000 Lastwagen pro Monat Hilfsgüter aus Gaziantep in die Provinz Idlib im Nordwesten Syriens bringen können, verläuft über den Grenzübergang Bab Al-Hawa unweit des türkischen Reyhanli. Auf der türkischen Seite wird er von der Armee kontrolliert, auf der syrischen Seite kassieren Bewaffnete der dschihadistischen Gruppe Haiat Tahrir Al-Scham (HTS) »Zollgebühren«. HTS ist die Nachfolgerin der Nusra-Front, die sich vom »Islamischen Staat im Irak und in der Levante« abgespalten und als syrischer Al-Qaida-Ableger fungiert hatte. Anführer ist seit damals der in Saudi-Arabien geborene Syrer Abu Mohammed Al-Dschaulani, auf den die USA-Regierung ein Kopfgeld in Höhe von zehn Millionen US-Dollar ausgesetzt hat.

Tatsächlich tragen die grenzüberschreitenden Hilfslieferungen nach Idlib zur Stärkung der Macht von HTS und Dschaulani bei. Während Hilfsorganisationen sich um Essen, Kleidung, Unterkunft, Gesundheit, Schulen für die rund zwei Millionen Menschen in der Nordwestprovinz Idlib kümmern, kann Dschaulani seine politische und militärische Macht ausbauen.

Über das Internetportal »Al-Monitor« wurde bekannt, daß hinter den Kulissen zwischen den USA und Rußland offenbar Verhandlungen über einen Ausgleich der Interessen geführt werden. Trotz offiziellen Dementis Washingtons bestätigte eine lokale Quelle gegenüber der Zeitung, daß die USA Moskau angeboten haben, die syrischen Ölquellen im Nordosten des Landes der Kontrolle Rußlands und Syriens zu überlassen, wenn Rußland im Gegenzug im UNO-Sicherheitsrat einer Verlängerung und Ausweitung von humanitären Korridoren nach Idlib und in den Nordosten zustimme. Laut der Quelle lehne Moskau das Ansinnen Washingtons ab.