Vor 60 Jahren
Der dritte Weltkrieg fiel aus
Die »Kuba-Krise« konnte durch Verhandlungen gelöst werden
Im Oktober 1962 stand die Welt am Rande eines Atomkriegs. Genau 17 Jahre, nachdem die USA mit den Bombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki als einziges Land der Welt Nuklearwaffen eingesetzt hatten, wurden im April 1962 Atomraketen in der Türkei einsatzbereit gemacht, die auf das Gebiet der Sowjetunion gerichtet waren. Diese Raketen vom Typ »PGM-19 Jupiter« waren seit 1958 schrittweise von den USA in der Türkei und auch in Italien stationiert worden.
Im Gegenzug begann die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) im Juli, Trägerraketen per Schiff nach Kuba zu transportieren. Von der nur 150 Kilometer von der Küste Floridas entfernten Insel hätten sowjetische Raketen große Teile der USA in wenigen Minuten erreichen können.
USA-Präsident John F. Kennedy erklärte in einer Fernsehansprache, daß Washington gegnerische Waffen direkt vor der eigenen Haustür nicht hinnehmen werde. Sollten die sowjetischen Schiffe nicht abdrehen, seien die USA-Streitkräfte auf jeden Gegenschlag vorbereitet. Bevor die Lage außer Kontrolle geriet, lenkten beide Seiten ein. Um eine Eskalation mit dem Risiko eines Atomkriegs zwischen den USA und der Sowjetunion zu vermeiden, einigten sich der sowjetische Regierungschef Nikita Chruschtschow und USA-Präsident John F. Kennedy auf einen diplomatischen Kompromiß.
Die Regierung in Moskau ordnete den Abzug der Raketen aus Kuba an. Washington stimmte zu, die US-amerikanischen Jupiter-Atomraketen in der Türkei abzubauen und verzichtete auf die bereits vorbereitete Invasion Kubas. Der von vielen befürchtete dritte Weltkrieg fiel aus. Die Welt konnte nach 13 Tagen wieder aufatmen.
»Operation Mongoose«
Die Entwicklungen, die zur akuten Krise führten, hatten mehr als ein Jahr zuvor begonnen. Nach der erfolgreich zurückgeschlagenen Invasion durch CIA-Söldner im April 1961 in der Schweinebucht (Playa Girón) hatte Washington zunächst auf Sanktionen gesetzt, um die Revolutionsregierung in Kuba zu stürzen. Da die Wirtschaftsblockade infolge des kubanischen Ausbaus der Beziehungen zur Sowjetunion und den sozialistischen Ländern Osteuropas nicht die beabsichtigte Wirkung erzielte, bereiteten die USA eine Intervention mit eigenen Truppen vor.
Das Drehbuch dafür war bereits seit November 1961 in einem Programm mit dem exotischen Namen »Operation Mongoose« entworfen worden. Unter der Aufsicht des Justizministers und Präsidentenbruders Robert Kennedy wurde es zum größten Unternehmen, das USA-Geheimdienste bis dahin durchgeführt hatten. Ende 1961 richteten mehr als 600 CIA-Agenten eine Kommandozentrale auf dem Campus der Universität von Miami ein, von wo aus Sabotage- und Terroreinsätze koordiniert und Pläne zur ökonomischen Destabilisierung der Insel umgesetzt wurden.
Das letztendliche Ziel der »Operation Mongoose« bestand darin, in Kuba ein Chaos aus Hunger, Not und Gewalt anzurichten, um einen anschließenden USA-Militäreinsatz »zu rechtfertigen«. Sollte diese Situation nicht erreicht werden, empfahlen die Verantwortlichen, einen Kriegsgrund vorzutäuschen und die USA-Truppen in Marsch zu setzen. Die Richtlinien für den Einmarsch mit Namen wie »ORTSAC« (CASTRO in umgekehrter Richtung) wurden im Weißen Haus ständig aktualisiert. Präsident Kennedy wünschte, daß nach seinem Einsatzbefehl die Landung auf Kuba innerhalb von drei Tagen durchgeführt werden konnte.
Nikita Chruschtschow, Erster Sekretär des ZK der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und Vorsitzender des Ministerrates, hatte bereits während der Kämpfe in der Schweinebucht erklärt, daß die Sowjetunion den Kubanern in einem derartigen Fall jede erforderliche Hilfe leisten werde, um eine Invasion zurückzuschlagen. Im Laufe des Jahres 1961 hatte der sowjetische Geheimdienst KGB dann zahlreiche Informationen über die konkrete Planung der USA erhalten, Kuba – diesmal mit ihrer Marine, der Luftwaffe und Bodentruppen – zu überfallen.
Im Mai 1962 wurde Chruschtschow bei einem Staatsbesuch in Bulgarien von der Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen des Typs »Jupiter« in der Region Izmir in der Türkei unterrichtet. Die Raketen konnten mit nuklearen Sprengköpfen bestückt werden und hatten eine Reichweite von rund 2.400 Kilometern. Während die UdSSR das Gebiet der USA mit ihren Raketen nicht erreichen konnte, deckten die nunmehr in drei NATO-Staaten aufgestellten US-amerikanischen Mittelstreckenraketen einen großen Teil des sowjetischen Territoriums einschließlich der Hauptstadt Moskau ab.
Der Vorgang alarmierte Chruschtschow, der erkannte, daß die USA keine Bedenken hatten, nukleare Waffen außerhalb des eigenen Territoriums bei Bündnispartnern in Stellung zu bringen. Noch im selben Monat stimmte der Verteidigungsrat der UdSSR dem Vorschlag zu, im Gegenzug zur USA-Bedrohung und zum Schutz Kubas vor einer Invasion sowjetische Mittelstreckenraketen auf der Insel zu stationieren.
Die sowjetische Regierung schickte den Oberbefehlshaber der Luftverteidigung und der Strategischen Raketentruppen, Marschall Sergei Birjusow, sowie das ZK-Mitglied Scharaf Raschidow nach Havanna. Sie informierten den Oberkommandierenden Fidel Castro und dessen Bruder, Verteidigungsminister Raúl Castro, über die Invasionspläne der USA und schlugen zur Abschreckung die Stationierung einer kleinen Anzahl von Mittelstreckenraketen vor, die mit atomaren Sprengköpfen ausgerüstet werden konnten.
Die Kubaner zögerten. Sie wollten keine Atomwaffen in ihrem Land. »Ich gestehe, daß ich mich nicht besonders wohl bei dem Gedanken fühlte, solche Waffen in Kuba zu haben«, vertraute Fidel Castro seinem Biografen Ignacio Ramonet an. Er schlug Moskau vor, statt dessen eine Erklärung abzugeben, daß die Invasion Kubas als Angriff auf die Sowjetunion mit entsprechenden militärischen Konsequenzen betrachtet würde. Die USA, so Castros Kalkül, würden es nicht wagen, der UdSSR den Krieg zu erklären und damit den Beginn des dritten Weltkrieges zu riskieren.
Chruschtschow entgegnete, daß es töricht sei zu erwarten, eine zweite von den USA gelenkte Invasion würde ebenso schlecht geplant werden wie die erste. »Warnend wies ich darauf hin, daß Castro im Falle einer weiteren Invasion gegen Kuba vernichtet werden würde, und sagte, wir seien die einzigen, die verhindern könnten, daß sich eine solche Katastrophe ereignet«, schrieb er in seinen Memoiren. Sollten die USA einen Blitzkrieg gegen Kuba führen, so die Überlegung des sowjetischen Staatsoberhaupts, würden sowjetische Truppen zu spät auf der Insel eintreffen, um den Kubanern beistehen zu können.
Fidel Castro beriet sich zunächst nur mit Raúl und Che Guevara, denen Chruschtschows Argumente einleuchteten. Alle drei kamen schließlich zu dem Ergebnis, ihr Land im Ernstfall nur mit Hilfe der UdSSR und des sozialistischen Lagers gegen die Aggressionspläne der USA verteidigen zu können. Auch die Nationale Leitung der Revolution stimmte dem Vorschlag zu und gab grünes Licht für »Anadyr«, die größte Militäroperation der UdSSR im Kalten Krieg.
Sofort wurde mit dem Bau der Anlagen für Trägerraketen, Sprengköpfe und Flugzeuge begonnen. Auf Einladung des sowjetischen Verteidigungsministers Rodion Malinowski reiste Raúl Castro am 2. Juni 1962 zu zweiwöchigen Beratungen nach Moskau und unterzeichnete mehrere Beistandsverträge. Bis zum Herbst war jedoch noch keine einzige Mittelstreckenrakete in der Karibik angekommen. Während Fidel Castro den Plan zur Stationierung der Raketen auf Kuba am liebsten sogleich öffentlich machen wollte, war es Chruschtschows ausdrücklicher Wunsch, damit zu warten. Die USA, so ließ er ausrichten, sollten die Raketen auf Kuba möglichst erst zur Kenntnis nehmen, wenn sie einsatzbereit seien. Dann wolle er ihre Stationierung persönlich vor der UNO in New York begründen.
Militärs auf Eskalationskurs
Als ein Spionageflugzeug der USA von Typ U2 am 15. Oktober 1962 die Installationen auf der Insel entdeckte, Kennedy die USA-Streitkräfte weltweit in Alarmbereitschaft versetzte und am 16. Oktober eine totale Seeblockade verhängte, stand die Welt am Rande eines Krieges. In Florida wartete eine 150.000 Mann starke US-amerikanische Invasionsarmee auf ihren Einsatzbefehl. Eine vom Präsidenten berufene »Beratungsgruppe« mit der Bezeichnung »Executive Committee of the National Security Council« (ExComm) diskutierte drei Alternativen: Luftangriffe mit anschließender Invasion, Verhängung einer Blockade oder diplomatische Schritte.
Am 18. Oktober empfing der USA-Präsident den sowjetischen Außenminister Andrej Gromyko zu einem seit langem geplanten Besuch in Washington. Im Laufe der Unterhaltung betonte Gromyko, die von der UdSSR an Kuba gelieferten Waffen seien keineswegs offensiver, sondern lediglich defensiver Natur. Kennedy versicherte dem Gast, daß die USA keine Invasion Kubas beabsichtigten. Am folgenden Tag traf er die Oberkommandierenden der Streitkräfte, die ihm einen schweren Luftangriff auf Kuba vorschlugen. Kennedys Hinweise auf eventuelle Reaktionen der UdSSR in Berlin und die Folgen eines möglichen Nuklearkrieges für die USA beeindruckten die Chefs der Streitkräfte nicht. Sie bestanden auf einer militärischen Lösung. Ihre starre Haltung führte dazu, daß der Präsident ein weiteres Treffen mit ihnen während der Krise als »überflüssig« ablehnte.
Am 22. Oktober beschloß die ExComm-Gruppe die strenge Kontrolle aller Schiffe, um den Transport von Waffen nach Kuba zu verhindern. Präsident Kennedy ordnete gleichzeitig an, die Einsatzbereitschaft (defense readiness condition, DEFCON) der nuklearen Streitkräfte auf Stufe 3 von 5 anzuheben, um »die Entschlossenheit der USA« zu signalisieren.
In einer Fernsehansprache drohte er noch am selben Tag mit einem Atomkrieg, falls die Raketen nicht wieder abgezogen werden sollten. Während der konservative britische Premierminister Harold Macmillan und andere ausländische Politiker zur Behutsamkeit mahnten und darauf hinwiesen, daß eine Seeblockade völkerrechtlich als »kriegerischer Akt« gelte, forderte der westdeutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer eine Bombardierung und Invasion Kubas. Der USA-Präsident folgte den Argumenten der Besonnenen, vermied die Eskalation und verwendete anstelle des Begriffs »Blockade« das Wort »Quarantäne«. Der sowjetische Botschafter Anatoli Dobrynin erhielt vorab den Text der Rede, in der Kennedy die Entscheidung ankündigte.
Trotz der Kontakte im Hintergrund donnerten seit dem 25. Oktober ununterbrochen USA-Kampfjets über Kuba. Die Piloten simulierten Bombenangriffe auf die Raketenstellungen; sie näherten sich im Sturzflug, fingen ihre Maschinen in knapp 200 Meter Höhe ab und steuerten imaginäre Ziele über den Baumkronen an. Man praktizierte den Psychokrieg. Fidel Castro behielt die Nerven, ließ jedoch Kampfalarm auslösen. 300.000 kubanische Soldaten und Milizionäre wurden an die Waffen gerufen. Beim Kommandeur der sowjetischen Truppen in Kuba, Issa Plijew, erzielten die Scheinangriffe der USA-Bomber dagegen die beabsichtigte Wirkung. Er meldete nach Moskau, daß die Raketenbasen binnen 24 Stunden attackiert würden.
Am 26. Oktober erklärte Chruschtschow sich gegenüber Kennedy bereit, die Raketen im Fall einer offiziellen Verzichtserklärung der USA auf eine Invasion Kubas abzuziehen. Einen Tag später sagte der sowjetische Regierungschef zu, die Anlagen in Kuba zu demontieren, wenn die USA die »Jupiter« aus der Türkei abzögen.
»Sozialismus gerettet«
Als am Nachmittag desselben Tages beim Abschuß einer U2 über Kuba der Pilot des US-amerikanischen Spionageflugzeugs ums Leben kam, fürchteten die beiden Staatsmänner, daß eine weitere Eskalation zum Dritten Weltkrieg führen könne. Kennedy entschloß sich, Chruschtschows Bedingungen für den Raketenabzug anzunehmen. Nach dem Austausch mehrerer Depeschen vereinbarten Chruschtschow und Kennedy am 28. Oktober den Abbau der Raketenanlagen in Kuba. Im Gegenzug stimmten die USA zu, ihre Jupiter-Atomraketen aus der Türkei abzuziehen.
Kennedy erklärte zudem verbindlich, daß die USA Kuba nicht militärisch angreifen würden. Chruschtschow verkündete das als Erfolg, relativierte die ursprüngliche Euphorie später jedoch. »So hatten wir die Existenz eines sozialistischen Kubas zumindest für weitere zwei Jahre gesichert, auf jeden Fall, solange Kennedy im Weißen Haus saß. Und wir hatten Grund zu der Annahme, daß der Präsident für eine zweite Amtszeit wiedergewählt wird«, schrieb er in seinen Memoiren.
Kennedy hatte die Präsidentschaftswahl 1960 mit einem Bekenntnis zu militärischer Stärke und dem Versprechen gewonnen, der angeblichen militärischen Übermacht der Sowjetunion etwas entgegenzusetzen. Obwohl in Wahrheit die USA einen Vorsprung hatten und über rund 17mal so viele Atomwaffen wie die UdSSR verfügten, verdoppelte Kennedy die Rüstungsausgaben, um die militärische Überlegenheit auf Jahre hinaus festzuschreiben. Chruschtschow mußte den USA in dieser Situation Paroli bieten. Bei seinem ersten Gespräch mit dem USA-Präsidenten im Juni 1961 in Wien soll der sowjetische Regierungschef Kennedy rhetorisch gefragt haben, was wohl die USA davon hielten, wenn an ihrer Türschwelle sowjetische Raketen stationiert würden.
Als das gut ein Jahr später tatsächlich erfolgte, fürchtete Kennedy – kurz vor den Zwischenwahlen, bei denen die Abgeordneten des Repräsentantenhauses und ein Drittel der Senatoren gewählt wurden – auch um die Glaubwürdigkeit der USA als entschlossene und durchsetzungsfähige Großmacht. Doch entgegen aller Warnungen der Falken, daß eine diplomatische Lösung der Raketenkrise zum Verlust der Mehrheit der Demokratischen Partei im Repräsentantenhaus führen würde, konnten die »Demokraten« bei den Wahlen am 6. November 1962 ihre absolute Mehrheit mit 260 Mandaten klar behaupten.
Vollendete Tatsachen
Die kubanische Regierung erfuhr von der Vereinbarung zwischen Kennedy und Chruschtschow erst am 28. Oktober aus den Nachrichten von Radio Moskau. Während sie vor der Stationierung in zahlreichen Gesprächen monatelang von der sowjetischen Führung gedrängt worden waren, den Raketen auf ihrem Territorium zuzustimmen, waren sie vor deren Abzug nicht einmal konsultiert worden, sondern wurden vor vollendete Tatsachen gestellt.
Fidel Castro befand sich in einer schwierigen Situation. Da er den USA – trotz der Zusage Kennedys – nicht traute und mit einer Fortsetzung terroristischer Aktionen rechnete, war er auf den Bündnispartner UdSSR weiter angewiesen. Andererseits wollte der kubanische Staatschef die Verletzung der Unabhängigkeit und Souveränität seines Landes durch den Führer der Sowjetunion nicht hinnehmen. Er warf Chruschtschow vor, mit den USA hinter dem Rücken der Kubaner verhandelt zu haben. »Wir waren nicht gegen irgendeine Lösung, denn es war vorrangig, einen nuklearen Konflikt zu vermeiden. Aber Chruschtschow hätte den US-Amerikanern sagen müssen: ›Man muß das auch mit den Kubanern besprechen.‹ Es mangelte ihm in diesem Augenblick an Besonnenheit und Standhaftigkeit, grundsätzlich hätten sie uns konsultieren müssen«, erklärte Fidel Castro. Wäre sein Land einbezogen worden, wäre das Abkommen zur Beilegung der Krise für Kuba vorteilhafter ausgefallen, argumentierte der Revolutionsführer.
Aus Sicht der kubanischen Regierung hätten zur Vermeidung künftiger Aggressionen fünf Konfliktpunkte geklärt werden müssen. Unter anderem hätte über die Rückgabe des von USA-Militärs besetzten Gebietes in der Bucht von Guantánamo, die Beendigung der Wirtschaftsblockade, die Beendigung der Spionageflüge und die Einstellung der Finanzierung terroristischer Angriffe durch die USA verhandelt werden müssen, heißt es in einem Fünf-Punkte-Papier Havannas.
Obwohl die Verhandlungen zwischen Chruschtschow und Kennedy geheim waren, hatte Fidel Castro Tage vor der Vereinbarung vage Hinweise erhalten, daß die Sowjetunion einen Abzug der Raketen vorschlagen könnte. Am 26. Oktober warnte er deshalb in einem Brief: Sollte es dazu kommen, »daß die Imperialisten Kuba mit dem Ziel überfallen, das Land zu besetzen, dann ist die Gefahr, die von dieser aggressiven Politik für die Menschheit ausgeht, so groß, daß die Sowjetunion niemals Umstände zulassen darf, unter denen die Vereinigten Staaten einen nuklearen Erstschlag gegen sie ausführen können«.
Chruschtschow war über den Brief offenbar verärgert. Am 30. Oktober setzte er in einem langen Schreiben an Castro ein Gerücht in die Welt, daß sich – trotz sofortiger Dementis – bis heute hält. »In ihrem Telegramm vom 27. Oktober schlugen Sie uns einen atomaren Erstschlag vor«, schrieb der Moskauer Regierungschef, das Datum verwechselnd. »Sie wissen ja sicher, was das bedeuten würde. Es wäre kein einfacher Schlag, sondern der Beginn eines nuklearen Weltkrieges«.
Fidel Castro antwortete: »Ich weiß nicht, welche Nachrichten Sie erhalten haben; ich selbst habe ihnen nur die Nachricht vom 26. Oktober geschickt. Darin habe Ihnen nicht vorgeschlagen, Genosse Chruschtschow, daß die Sowjetunion angreifen soll, denn das wäre inkorrekt, unmoralisch und niederträchtig von mir, sondern daß, wenn die Imperialisten Kuba angreifen und sich durch diese Tatsache – da Streitkräfte der UdSSR in Kuba dazu bestimmt sind, unsere Verteidigung im Fall eines Angriffs von außen zu unterstützen – in Aggressoren gegen Kuba und gegen die UdSSR verwandeln würden, ihnen mit einem Gegenschlag geantwortet werden müsse«. Obwohl Castro mehrfach darauf hinwies, niemals gefordert zu haben, »daß die UdSSR inmitten einer Krise angreifen solle«, hält sich die Behauptung, er habe Chruschtschow zum Atomkrieg gedrängt.
Souveränität mißachtet
Die Regierung in Havanna sah in den Absprachen zur Lösung der Krise, die ohne ihre Beteiligung erfolgt waren, eine Mißachtung der gegen Spanien und die USA erkämpften kubanischen Souveränität. »Unsere Beziehungen zur Sowjetunion verschlechterten sich. Das nahm über Jahre Einfluß auf unsere Zusammenarbeit«, erinnerte sich Fidel Castro im Gespräch mit Ramonet.
Auch Chruschtschow fürchtete, daß die Kubaner das Vertrauen in Moskaus Bündnistreue verloren hatten. »Castro empfing nicht einmal mehr unseren Botschafter«, klagte er. Der Kreml-Chef schickte seinen mit Raúl Castro und Che Guevara gut bekannten Stellvertreter Anastas Mikojan als Unterhändler nach Havanna, um die Wogen zu glätten. Mikojan sprach dort erst einmal eine Einladung aus. Vom 27. April bis zum 3. Juni 1963 hielt Fidel Castro sich zu seinem – ungewöhnlich langen – ersten Staatsbesuch in der Sowjetunion auf. Während der Parade zum 1. Mai stand er neben Nikita Chruschtschow auf der Tribüne des Lenin-Mausoleums an der Kremlmauer, wurde mit dem Titel »Held der Sowjetunion« und als erster Ausländer mit dem Lenin-Orden ausgezeichnet. Die sowjetische Führung versicherte dem Revolutionsführer, daß die UdSSR Kuba auch nach dem Abzug der Raketen gegen jeden militärischen Angriff verteidigen würde.
USA-Präsident John F. Kennedy erklärte – nach den für seine Partei erfolgreichen Zwischenwahlen – am 17. Dezember 1962 in einem Fernsehinterview, die Raketenkrise habe die Welt »an einen Wendepunkt« gebracht. Sein damaliger Kriegsminister Robert McNamara zog aus den Erfahrungen der 13 Tage, an denen die Menschheit an der Schwelle zum Atomkrieg stand, den Schluß, daß nukleare Krisen im Vorfeld vermieden werden müßten, um die damit verbundenen Gefahren zu minimieren.
Auch in der BRD, deren rechtskonservative Regierung die USA zu einer härteren Haltung gedrängt hatte, wurden nachdenkliche Stimmen lauter. So schrieb der Politologe und CDU-Mitbegründer Otto Heinrich von der Gablentz Ende November 1962 in einem Beitrag für die Wochenzeitung »Die Zeit«, er hoffe, daß »jetzt das große Gespräch zustande kommt, wo beide Parteien sehen, daß sie den anderen ohne Atomkrieg nicht wesentlich schwächen können«.